Mysteriöse Welten (Salman Rushdie)

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„Aber was mein Vater, der sich nie dem Gras hingab, an besonderer Stelle auf dem Sims aufbewahrte, war etwas viel Selteneres, etwas Legendäres, nahezu Okkultes. ‚Afghan Moon‘, sagte mein Vater. ‚Wenn du das nimmst, öffnet sich das dritte Auge in deiner Zirbeldrüse, mitten auf deiner Stirn, du wirst hellsichtig, und nur wenige Geheimnisse bleiben dir verschlossen.‘

‚Warum hast du es dann nie genommen‘, fragte ich.

‚Weil eine Welt ohne Mysterien wie ein Bild ohne Schatten ist‘, sagte er. ‚Du siehst zu viel, und es zeigt sich dir nichts‘.“

(Salman Rushdie, Golden House, S.42)

Vom Träumen

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Ein Traum ohne Wirklichkeit bedeutet mir ebenso wenig
wie reine Wirklichkeit ohne Traum
(Max Reinhard).

Was tun, wenn unsere Träume, die größeren oder die kleineren, sich auflösen? Der Traum Nelson Mandelas niedergetrampelt von Jacob Zuma. Die Träume der Befreiung zerbrochen in zahllosen Diktaturen. Die Träume der Erlösung ausgeblutet im Leiden. Der Traum vom Sieg der Liebe enthauptet von einer Machete. Dies könnte der Anfang einer schier endlosen Liste sein. Was also, wenn unsere Träume auf dem harten Pflaster der Realität zerplatzen. Wenn das weiträumige Träumen fast regelhaft ins Desaster führt – sollen, können, dürfen wir (noch) träumen? Was wird aus dem Geträumten? Wohin geht das Träumen?

Solange ich denken kann, war ich verträumt. Ich träumte im Gehen, beim Spielen, in der Schule, an der Uni, auf Wiesen, unter Wolken oder Plakaten, an Stränden, in Zügen. Einmal lief ich, ich muss etwa fünf Jahre alt gewesen sein, mit offenen Augen träumend gegen einen Laternenpfahl. Man hatte mich Milch holen geschickt, die Milchkanne fiel mir aus der Hand und die Milch ergoß sich in den Rindstein. In der Realität angekommen rieb ich mir den Kopf und spürte, wie eine Beule schnell dicker wurde. Ich fürchte, ich bin keine gute Testperson für Behaviouristen, ich laufe immer wieder träumend gegen Pfähle und hole mir Beulen.

 Ich träume lesend, sprechend, schreibend, beim Schlendern durch Städte vergesse ich träumend die Zeit. Ich träume allein und gemeinsam mit anderen – manchmal träume ich noch, wenn die anderen schon längst weitergezogen sind. Ein vergessenes Kind am Strand, das, alles um sich herum vergessend, im Sand mit Steinen und Muscheln und Wassern spielt, träumend. Ich kann mir nicht vorstellen, nicht mehr zu träumen. Könnte ich nicht mehr träumen, fühlte ich mich lebendig begraben.

Doch was wird aus unseren Träumen, wenn wir versuchen, sie zu verwirklichen? Mit dieser Frage bin ich nicht allein. Amoz Oz stellt sie in seinem Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (verfilmt von Natalie Wortmann). Hellsichtig, poetisch. Ein Teil stirbt beim Träumen, ein anderer Teil lebt weiter. Im Traum. Vielleicht.