Nach der Krönungsmesse des Xi – Acht Thesen zur Kooperation mit China im Feld Psychotherapie

Veröffentlicht am Posted in Kooperation

Der Parteitag der KPch im Oktober 2022 bestätigt leider alle Einschätzungen und Befürchtungen von 2019/2021. Auf der Krönungsmesse des großen „Navigators“ Xi gab es eine gezielte und historische Inszenierung. Ein bizarrer Moment mit einer deutlichen Botschaft an alle Chinesen und die Welt. Die Zeit der Reformen und der Öffnung Chinas ist vorbei. Game over. Der Mann, der da vor aller Augen abgeführt und gedemütigt wurde (und keiner rührt sich!) war kein Geringerer als der „überragende Führer“ Hu Jintao (2002-2012 Generalsekretär der KPch, Staatspräsident von 2003-2013), ein Symbol für die Reform- und Öffnungspolitik Chinas nach Mao und vor Xi. Der lange Marsch der KPch setzt sich mit der Unerbittlichkeit des großen Sprungs nach vorn, der Kulturrevolution und des Massakers am Tian‘anmen fort. Morgen Taiwan und übermorgen die ganze Welt.

Wem angesichts der Bilder schaudert, der erhebe sich. Ich bin froh, dass ich den Saal bereits vorher verlassen habe. Wer (spätestens jetzt) so tut als sei nichts gewesen, diskreditiert sich selbst. Die neue Situation erfordert klare Positionierungen und Grenzziehungen.

Unterrichten in China – Acht Thesen zur Kooperation
im Feld von Psychotherapie und Beratung

Jan Bleckwedel

Oktober 2022

 

  1. Wer Psychotherapie in China unterrichten will, muss nicht nur die kulturellen und sozialen, sondern auch die politischen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen zur Kenntnis nehmen. Dabei geht es insbesondere um drei Tatsachen: (A) jede Person, die sich auf dem Territorium der Volksrepublik China aufhält, ist einer strikten und lückenlosen Überwachung, Kontrolle und Lenkung durch die KPch und die staatlichen Organe ausgesetzt. Dies betrifft alle Lebensbereiche, auch den privaten Bereich und den Gesundheitsbereich. (B) Ein Schutz von Persönlichkeitsrechten durch eine unabhängige Justiz ist für niemanden gegeben. (C) Nach den neuen Hongkonger Sicherheitsgesetzen können alle Personen, die sich in oder außerhalb von China an Handlungen oder Äußerungen beteiligen (oder beteiligt haben oder dies planen), welche – nach Ansicht der Behörden – gegen das gesellschaftliche System, gegen die KPch und ihre Kader (insbesondere den Vorsitzenden Xi), das chinesische Volk, den Staat und seine Organe oder das herrschende Regime gewendet sein könnten, strafrechtlich verfolgt werden.

  1. Für Kooperationen im Feld von Psychotherapie und Beratung gelten besondere fachliche Regeln und ethische Standards (im Unterschied zu anderen Feldern oder Bereichen wie z.B. Technologie, Handel, allgemeiner kultureller Austausch, Kunst, Diplomatie oder Politik).

  1. Die fachlichen und ethischen Standards für Psychotherapie und Beratung sind – wie in den verschiedenen psychotherapeutischen Fachgesellschaften und Psychotherapeutenkammern formuliert und verbindlich festgelegt – für Lehrende, die Mitglieder solcher Fachgesellschaften und Kammern sind, bindend und auch für die Lehre in China oder anderen Ländern gültig und unverzichtbar. In dieser Hinsicht kann es keine zwei Maßstäbe geben.

  1. In der Zusammenarbeit mit chinesischen Lehrenden und Klienten müssen, wie dies auch sonst üblich ist, fachliche Regeln und ethische Standards offen, transparent und verständlich dargelegt, klar kommuniziert und vertreten werden (können). Dabei können Unterschiede und Konflikte deutlich werden. Dennoch ist die offene und unbedrohte Kommunikation über Standards und Regeln eine Voraussetzung sine qua non für Kooperationen in Praxis und Lehre im Feld von Therapie und Beratung.
  2. Unverzichtbare fachliche und ethische Standards sowohl für die Ausübung von Psychotherapie als auch für die Lehre von Psychotherapie sind unter anderem: Freiheit der Rede und der Gedanken in der therapeutischen Situation, Datenschutz und Schweigepflicht, Achtung der Autonomie von Klienten(systemen), weitgehender Schutz von Klienten vor Schädigungen, Missbrauch, Bedrohungen oder Manipulationen durch therapeutische Prozesse oder Maßnahmen.

  1. Können die genannten fachlichen und ethischen Standards und Rahmenbedingungen nicht eingehalten oder realisiert werden, handelt es sich nicht (mehr) um Psychotherapie oder Beratung, sondern um die Anwendung von Psychotechniken- und methoden in einem anderen Rahmen (zum Beispiel um mentale Manipulation im Sinne einer bestimmten Ideologie). Der Unterschied muss klar benannt werden.

  1. Eine gelingende Kooperation im Feld von Psychotherapie und Beratung ist nur möglich im Rahmen von gegenseitigem Respekt, gegenseitiger Offenheit und gegenseitigem Vertrauen. Die Würde jedes einzelnen ist zu achten. Eine Zensur oder Bedrohung findet nicht statt.

  1. Ein Verschweigen, Verleugnen oder Unterlaufen von fachlichen Regeln und ethischen Standards käme nicht nur einer Irreführung von Kooperationspartnern in China gleich, sie würde auch die Mitgliedschaft in Gesellschaften und Psychotherapeutenkammern an den Heimatorten Infragestellen.

Jan Bleckwedel, 22.10.2022

(ausführlicherer Text vom Mai 2021)

 

 

Psychotherapie Unterrichten in China – Freiheit und Schutz sind unverzichtbar: Acht Thesen zur Zusammenarbeit

Veröffentlicht am Posted in Courage, Ethik&Pragmatismus, Freiheit&Begrenzung

Psychotherapie Unterrichten in China – Freiheit und Schutz sind unverzichtbar: Acht Thesen zur Zusammenarbeit

Von Jan Bleckwedel, Mai 2021

Alles zu sehen, bedeutet eine ganz andere Verantwortung für die Welt, weil es offensichtlich wird, dass die Geste ‚hier’ mit der Geste ‚dort’ verbunden ist, dass eine Entscheidung, die in einem Teil der Welt getroffen wird, Auswirkungen in einem anderen ihrer Teile haben wird…

(Olga Tokarczuk, Nobelpreisrede 2019)

Wohl tun wo man kann, Freiheit über alles lieben, Wahrheit nie – auch sogar am Thron – nicht verleugnen.

(Beethoven, Tagebucheintrag, 1793)

Die mich kennen, wissen von meiner Begeisterung für das Unterrichten systemischer Therapie, Familientherapie und Paartherapie/beratung in Beijing und Shanghai. Im November 2019, noch vor der weltweiten Pandemie, habe ich mich trotzdem entschieden, vorläufig nicht mehr in China zu unterrichten. Warum? Ich beschreibe zuerst den Hintergrund und dann die Prinzipien der Kooperation, an denen ich mich orientiere. Dazu gehört auch die Courage, sich in Bezug auf Werte klar zu positionieren.

 

Zwei Gesellschaftsmodelle im Wettstreit
Wer heute in China Psychotherapie unterrichten will muss den
radikalen Wandel der politischen Rahmenbedingungen zur Kenntnis nehmen


Als wir 2012 im Rahmen der DCAP nach Shanghai und Beijing eingeladen wurden, systemische Therapie (und später Paartherapie) zu unterrichten, öffnete sich das Tor zu einer neuen, faszinierenden Welt (die Buntheit, Schönheit, Tiefe und Fremdheit der Kultur, die atemberaubende Dynamik der Gesellschaft, die Weisheit der Gärten). Ohne Illusionen über die jüngere Geschichte Chinas und die politischen Verhältnisse kamen wir in ein boomendes und sich zivilgesellschaftlich weit öffnendes Land. Dieser subjektive Eindruck wurde durch andere Beobachter/-innen bestätigt. Gefühlt konnten wir uns frei bewegen und unterrichten, was und wie wir wollten. Das stimmte mich froh und munter.

Die kollegiale Zusammenarbeit war geprägt von gegenseitigem Respekt, zunehmendem Vertrauen und gegenseitigem Interesse, anstrengend, aber auch voller Leichtigkeit und Beschwingtheit. In den Seminaren erlebte ich Wissbegier, Austauschfreude, aufkeimenden Mut zur Auseinandersetzung, Emotionalität, Lachen und Humor. Offenbar erfüllte das gemeinsame transkulturelle Lernen alle Beteiligten mit Freude und Zuversicht. Trotz oder gerade wegen der besonderen Herausforderungen. Mich faszinierte die Möglichkeit, sich im Rahmen von gegenseitigem Respekt und Vertrauen auf fachlicher Basis zwischen den Welten über unterschiedliche Welten auszutauschen und voneinander zu lernen. Für diese Erfahrung bin ich sehr dankbar.

Offenbar hat, was vielen Freude bereitete, einem Teil der Machtelite Chinas weniger gut gefallen. Der Kontext: trotz ökonomischer Erfolge erodierte die Macht der KPch, sie geriet politisch und ideologisch in die Defensive und die Angst vor Kontrollverlust ging um. Eine Angst, die China tief prägt. In dieser Situation bot die Gruppe um Xi Jinping einen Lösungsweg an: Eine beispiellose strategische Offensive, die verspricht, die inneren und äußeren Probleme und Konflikte zu lösen und dabei die Macht der herrschenden Eliten zu wahren und zu festigen.

1.    Das Dokument Nr. 9 und die strategische Neuausrichtung Chinas

Seit 2012 wurde unter Xi Jinping die politisch-ideologisch relativ liberale Öffnungs-Ära unter Generalsekretär Hu Jintao (2002-2012), die mit der marktwirtschaftlichen Öffnung unter Deng Xiaoping begonnen hatte, systematisch beendet. Die absolute Macht der KPCh wurde schrittweise wiederhergestellt[1]. Seither verfolgt China mit aller Macht und allen Mitteln den „chinesischen Traum“. Das neue imperiale Selbstbewusstsein Chinas drückt sich nicht mehr nur infrastrukturell oder ökonomisch aus, sondern, nach einer langen Geschichte der Demütigung, Ausbeutung und Bevormundung durch Europa und Amerika, auch geostrategisch, handelspolitisch, politisch und ideologisch.

Das sogenannte Dokument Nr.9 (wer sich informieren will: unbedingt lesen!) mit der Überschrift „Kommuniqué zur aktuellen Lage der ideologischen Sphäre“ formuliert eine ideologische Offensive auf allen Ebenen. China soll bis 2049 ökonomisch, militärisch und geistig zur dominierenden Weltmacht des 21sten Jahrhunderts werden. Damit dies gelingt, muss das chinesische Gesellschaftsmodell[2] nach innen und außen offensiv als überlegenes Gesellschaftsmodell propagiert und, wo und wie immer möglich, etabliert werden. Konsequent richtet sich die ideologische Offensive gegen den zersetzenden ideologischen Einfluss des „Westens“, gegen „westliche“ Gesellschaftsmodelle und Ideologien, um Chinas Machtanspruch nicht nur technisch-ökonomisch-militärisch-geostrategisch, sondern auch politisch-ideologisch zu festigen.

Die Änderung der strategischen Ausrichtung Chinas unter Xi[3] läutet einen Epochenwandel ein, in dem sich nicht nur die übergeordneten Koordinaten des globalen Wirtschaftens, sondern auch die der politischen Auseinandersetzung verschieben. In diesem Kontext kämpfen zwei Gesellschaftsmodelle und Wertesysteme um die globale Hegemonie. Die folgende Matrix stellt diese Gesellschaftsmodelle (in idealtypischer Weise[4] und in vereinfachter Form[5]) einander gegenüber, um Unterschiede im Zusammenhang kenntlich zu machen:

Matrix:       Westlich-demokratische Modelle    vs    chinesisches Gesellschaftsmodel
Demokratische Modelle Chinesisches Modell
Staatsform Parlamentarische Demokratie Diktatur neuen Typs
Parteiensystem Mehrparteiensystem

Freie Wahlen

Einparteiensystem
Demokratischer Zentralismus
Gewalt Gewaltenteilung
Gegenseitige Kontrolle
Gewaltenkonzentration
Gleichschaltung
Macht „Balance of Power“
Verteilte und geteilte Macht
Machtkonzentration
Parteidisziplin, pyramidale Macht
Rechtssystem Unabhängige Justiz Parteilich gelenkte Justiz
Sozialkreditsysteme
Freiheit Bürgerliche Freiheitsrechte
Kontrolle staatlicher Organe durch Justiz, Öffentlichkeit
Staatliche Eingriffsrechte
Kontrolle der Bürger durch staatliche Organe
Meinung Unabhängiger Journalismus
Offene MedienMeinungsfreiheit
MeinungsvielfaltWiderstreitende Kritik und Kontroverse
Zensur
Propaganda
Gelenkte Meinung
Meinungskontrolle
Meinungseinheit,
Harmonie und Zusammenführung
Versammlung Versammlungs- und Bewegungsfreiheit Versammlungs- und Bewegungskontrolle
Daten Datenschutz Datenkontrolle und
-überwachung
Schutz Schutz der Privatsphäre Schutz der Gemeinschaftssphäre
Gesellschaftsstruktur Offene Zivilgesellschaft
Dezentrale Organisation
Zentral gelenkte Aktivitäten
Zentrale Organisation
Werte Menschenwürde

Individuelle Werte
Individuelle Freiheiten
Menschenrechte

Volkswürde
Gemeinschaftliche Werte
Harmonie und Gemeinschaftswohl
Volksrechte

 

2. Zur Realität des „chinesische Traums“

Wer dachte, das Dokument Nr. 9 sei ein Papiertiger [6], wird durch überprüfbare FAKTEN eines Besseren belehrt: Die konsequente Unterdrückung von Kritik, die systematische Gleichschaltung von Institutionen (u.a. von Universitäten) und Medien, das Vorgehen des chinesischen Staates in Xinjiang (Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstoß gegen die chinesische Verfassung[i]), die Bedrohung Taiwans mit Annexion, die Beanspruchung des südchinesischen Meeres (bisher als internationales Gewässer völkerrechtlich anerkannt) als chinesisches Territorium, die neo-koloniale Politik chinesischer Konzerne in Afrika, die neo-koloniale Aufkauf-und Kreditpolitik entlang der „neuen Seidenstraße“ (u.a. der Hafen von Piräus), die politische Kaperung Hongkongs (durch den Bruch international gültiger Verträge), die Erzwingung von Selbstzensur und vorauseilendem Gehorsam (ausländische Verlage, Sportmannschaften, Medien, Firmen oder Institutionen, die in China tätig sein wollen), die geheimdienstliche Verfolgung und Bedrohung von EU-Bürgern, die sich für Bürger Hongkongs einsetzen (Dänemark), oder der Ausschluss unliebsamer EU-Parlamentarier – all das spricht eine deutliche Sprache, und soll eine deutliche Sprache sprechen. Die Verbreitung von Angst und Schrecken gehört zum System.

Sozialpsychologisch gesehen: Was verdrängt, tabuisiert, „vergessen“ und nicht bearbeitet wurde (die Verbrechen der Kulturrevolution, die militärische Niederschlagung der Massenbewegung für Demokratie im Frühling/Sommer 1989 und das Massaker am Tien’anmen) drängt zur Wiederkehr. 40% der Hongkonger denken daran, ins Ausland zu emigrieren, 30% davon arbeiten konkret an ihrer Ausreise. Ein Massenexodus, der die Emigration aus dem faschistischen Deutschland zahlenmäßig weit übertrifft.

3. Zusammenfassende Kontextanalyse

Nach den Kriterien westlicher Politikwissenschaften hat sich in China auf der Basis einer starken Ökonomie ein imperial-totalitäres System neuen Typs etabliert[7], das auf der Basis einer starken Vision repressiv nach innen und aggressiv nach außen agiert – während westlich-demokratische Gesellschafts-und Wertesysteme von innen her erodieren und um ihre Erneuerung kämpfen (müssen), um glaubwürdig, attraktiv und innovativ zu bleiben.

Ob es nun gefällt oder nicht, in diesem KONTEXT bewegen sich auch Psychotherapeuten, die in China unterrichten (wollen), und es ist unmöglich, sich nicht in diesem Kontext zu positionieren.

4. Positionsbestimmung 

Offensichtlich werden demokratische und liberale Werte, und damit auch fachliche Standards und ethische Regeln, die für Beratung und Psychotherapie international konstitutiv und essentiell sind, gegenwärtig vom chinesischen Staatsapparat, der tief in alle gesellschaftlichen Bereiche eingreift, massiv in Frage gestellt und bekämpft. Selbst wenn einzelne Kollegen/innen oder Gruppen von Kollegen/innen sich international üblichen Standards und Regeln verpflichtet fühlen – in einem totalitären System gibt es keine unkontrollierten, sicheren Räume, vielmehr muss strukturell mit Überwachung, Manipulation, Übergriffen, Machtmissbrauch und Repressalien gerechnet werden. Damit stehen Rahmenbedingungen für psychologische Beratung und Psychotherapie, die nach internationalen Maßstäben als unverzichtbar gelten, in Frage.

Diese Themen müssen deutlich und offen angesprochen werden. Nicht ansprechen oder („typisch chinesisch“) alles im Ungefähren lassen, entspräche aus meiner Sicht nicht fachlichen Standards. Die Geschichte der Psychotherapie während des Faschismus in Deutschland zeigt zudem, dass Appeasement gegenüber Diktaturen nicht belohnt wird[8]. Schon aus Gründen der historischen Verantwortung und professionellen Selbstachtung verbietet es sich, sich nicht klar zu positionieren.

Psychotherapie ist ein Raum, der Klienten so gut es geht vor Manipulation und (erneuter) Verletzung schützt, und die vornehmste Aufgabe von Therapeut*innen sehe ich darin, diesen speziellen intersubjektiven Raum zu schützen. Als Wächter dieses Schutzraumes tragen wir als Psychotherapeuten und Lehrende eine hohe Verantwortung. Das gilt selbstverständlich auch für Ausbildungszusammenhänge, die nicht nur den Modellfall eines geschützten Raumes darstellen, sondern in denen eben die fachlichen Standards und ethischen Regeln vermittelt werden sollen, die diesen Raum schützen.

Im Kern imperialer, totalitärer Regime regiert Größenwahn, Angst und Lebensfeindlichkeit – doch die Erfahrung von Mitmenschlichkeit in China stimmt mich für die Zukunft zuversichtlich. Die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, Schutz, Selbstbestimmung, Kooperation, Begegnung und Lebensfreude ist universell und unbesiegbar – im Osten, im Westen, im Süden und im Norden. Chinesische Menschen machen da keine Ausnahme.

Jan Bleckwedel im Mai 2021

 

Acht Thesen zur Zusammenarbeit

Prinzipien der Kooperation in den Formaten
Psychologische Beratung, Psychotherapie, Supervision

Jan Bleckwedel

 

Leitgedanke: Soviel Klarheit wie nötig, soviel Kooperation wie möglich.

 

1.    Feldspezifische Besonderheiten der Kooperation beachten

Bei jeder Art der Zusammenarbeit sollen die jeweiligen Besonderheiten eines Arbeitsfeldesberücksichtigt werden. Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für Ausbildungs-Kooperationen im Feld psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision unterscheiden sich von Kooperationen in den Feldern Soziales, Medizin, Politik, Wirtschaft, Technik oder Kultur.

2.    Grundlagen und Voraussetzungen von Kooperationen explizit formulieren und transparent kommunizieren

Rahmenbedingungen, Grundlagen und Voraussetzungen für Ausbildungs-Kooperationen im Feld psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision sollen (a) explizit formuliert und (b) transparent kommuniziert werden.

3.    Orientierung an international gültigen fachlichen Standards und ethischen Leitlinien in Praxis und Lehre

Die Prinzipien der Zusammenarbeit in Ausbildung und Lehre sollen sich an den international gültigen fachlichen Standards und ethischen Leitlinien für die Beziehungsgestaltung in psychologischer Beratung, Psychotherapie und Supervision orientieren.

4.     Prinzipien, fachliche Standards und ethische Leitlinien professioneller Zusammenarbeit in den Formaten psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision

Es gelten die fachlichen Standards und ethischen Leitlinien der jeweiligen nationalen und internationalen Fachverbände und professionellen Vereinigungen[1].

5.    Transparente, informierte und reflektierte Zusammenarbeit in Praxis und Lehre

Rahmenbedingungen, Grundlagen, fachliche Standards und ethische Leitlinien sollen Klientensystemen gegenüber (in der passenden Form) benannt und offengelegt werden, um eine informierte Einwilligung zur Zusammenarbeit („Informed Consent“) zu ermöglichen. Die praktische Zusammenarbeit kann auf dieser Grundlage jederzeit kritisch von allen Partnern hinterfragt, reflektiert und gegebenenfalls (ohne Androhung von Repressalien oder Nachteilen) beendet werden.

6.    Die therapeutische Beziehungen soll als sicherer Ort geschützt werden – Wächterfunktion, Schutz des Raumes, Schutz vor Schädigungen.

Wer als Klient psychologische Beratung, Psychotherapie oder Supervision in Anspruch nimmt, kann, im Rahmen von gegenseitigem Respekt[2], von einem besonders gesicherten Vertrauensraum ausgehen. Gleichzeitig sind Hilfebeziehungen durch eine grundlegende Asymmetrie (Wissen, Macht) gekennzeichnet[3]. Wird der therapeutische Raum nicht ausreichend geschützt, oder treten (vermeidbare) Schädigungen (des Vertrauens) in diesem intersubjektiven Raum auf, kann es zu besonders gravierenden Folgeschäden kommen. Diejenigen, die einen solchen Vertrauensraum anbieten, tragen daher eine besondere Verantwortung für sichere Rahmenbedingungen, den Schutz des Raumes und den Schutz von Klienten. Mit anderen Worten: Die vornehmste Aufgabe von Institutionen und Beraterinnen, Therapeutinnen, Supervisorinnen besteht darin, den therapeutischen Vertrauensraum zu sichern und zu schützen. Diese Wächterfunktion gilt selbstverständlich auch für Ausbilderinnen, unabhängig von Richtungen, Verfahren oder Methoden, Orten, politischen Systemen oder Kulturen. Zu den unverzichtbaren Rahmenbedingungen und Standards gehören:

  • Informierte, freiwillige und reflektierte Teilnahme[4]
  • Vertraulichkeit, Verschwiegenheit und Datenschutz
  • Freies Sprechen (eine Zensur findet nicht statt)
  • Die Würde und Autonomie von Klient*innen und Klientensystemen wird geachtet
  • Schutz vor Überwachung, Kontrolle oder Manipulation durch „Dritte“
  • Transparente Beziehungsgestaltung, Schutz vor mentaler Manipulation
  • Schutz vor dem Missbrauch von Macht in einer asymmetrischen Beziehung
  • Schutz vor körperlichen oder mentalen Übergriffen in der Arbeitsbeziehung
  • Rahmen aus gegenseitigem Respekt
  • Arbeitsbündnis auf der Grundlage von Vertrauen und gemeinsam geteilten Zielen
  • Weitgehender Schutz vor schwerwiegenden und nachhaltigen emotionalen Verletzungen und Schädigungen

All das gilt selbstverständlich auch für Ausbildungszusammenhänge in den Formaten psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision, die nicht nur den Modellfall eines geschützten Raumes darstellen, sondern in denen eben die fachlichen Standards und ethischen Regeln unterrichtet und vermittelt werden sollen, die unverzichtbar und hilfreich sind, wenn es darum geht, alle Akteure im Raum und den beschriebenen Vertrauensraum selbst (so weit als möglich) zu schützen[5].

  1. Klarheit und Klärung: Direkte und offene Kommunikation über unterschiedliche Werte und Auffassungen

    Es kommt vor, dass in der Zusammenarbeit unterschiedliche Auffassungen über grundlegende Werte, fachliche Standards und ethische Regeln auftauchen. Da diese die Grundlagen einer jeden Zusammenarbeit betreffen (den Kontext bilden, in dem alle Interaktionen und Kommunikationen ihre jeweilige Bedeutung erhalten), sollten solche Unterschiede thematisiert und (erstrangig) besprochen werden, mit dem Ziel, eine Klärung herbeizuführen, sowie über einen angemessenen Umgang mit unterschiedlichen Auffassungen zu beraten.Bei unüberbrückbaren Auffassungen soll die Zusammenarbeit bis zu einer Klärung ausgesetzt werden. Kommt es zu keiner Einigung, soll die Zusammenarbeit beendet werden, da die Voraussetzungen für ein tragendes Arbeitsbündnis nicht (mehr) gegeben sind. Beendet werden soll die Zusammenarbeit auch dann, wenn in Dreieckskontrakten (zum Beispiel zwischen einer veranstaltenden Organisation, Teilnehmenden und Lehrenden) die Gefahr einer negativen Triangulierung besteht (etwa, wenn Teilnehmende durch einen Dissens in nicht zumutbare Loyalitätskonflikte geraten[6]).

8.    Gegenseitiger Respekt – Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Eine respektvolle Zusammenarbeit in den Formaten psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision basiert auf gleichberechtigten, weitgehend „herrschaftsfrei“ (Habermas) gestalteten Diskursen. Nur so ist ein offener, authentischer und ehrlicher Austausch auf Augenhöhe möglich, auch über kontroverse, unbewusst gemachte oder kollektiv tabuisierte Themen. Solchermaßen gestaltete Dialoge schaffen Vertrauen und ermöglichen gegenseitiges, transkulturelles Lernen jenseits von Dominanzstreben. Ein fachlicher Austausch zwischen den Welten über unterschiedliche Welten sollte offen und angstfrei geführt werden können.

Jan Bleckwedel im April 2021

[1] Die entsprechenden Dokumente können jederzeit über das Internet aufgerufen und eingesehen werden.

[2]Vgl.  Bleckwedel, J. (2008). Systemische Therapie in Aktion. S. 39-55 u. S. 119ff

[3] Genauer in Bleckwedel, J. (2018). Supervision als praktizierte Ethik. Vortragsskript, Arbeitsblätter (unveröffentlicht).

[4] Der Umgang mit sogenannten Zwangskontexten oder Semi-Zwangskontexten stellt einen Spezialfall dar, der hier nicht weiter ausgeführt werden kann.

[5] Genauer dazu Bleckwedel, J., Skripten/PPTs zum Thema „Unterschiedliche Rollen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Therapeut/innen und Klient/innen im therapeutischen Prozess“, oder „Systemic Therapy as Applied Ethics, Principles and Standards in Therapy. Synopsis of Chinese and German Principles and Standards in Therapy”.

[6] Für das Format Supervision ausführlich beschrieben in: Bleckwedel, J. (2020). Einen Auftrag zurückgeben. Eine Geschichte von professioneller Courage und DemutThemenheft Gewagt: CourageZeitschrift Supervision 38 (4) 2020, S 28-32. Siehe auch: https://doi.org/10.30820/1431-7168-2020-4-28.

Anmerkungen

[1] Xi wurde 2018 auf unbestimmte Zeit zum Staatspräsidenten gewählt, er ist Vorsitzenden der KPCh und zudem „Vorsitzender von Allem“. Xi hat damit offiziell mehr Macht als Mao oder Deng Xiaoping. Maßnahmen wie kollektive Führung und Zeitbeschränkung für Ämter, die nach 1989 eingeführt wurden, um Personenkult und Machtmissbrauch einzuschränken, wurden damit zurückgenommen (mit dem Argument: Stabilität, Kontinuität und Stärke). Gefolgsleute der Xi-Linie besetzen inzwischen alle wichtigen Machtpositionen. Gremien der KPCh lenken und steuern erneut alle Bereiche des Staatsapparats und aller Regierungsstellen, die nach 1989 (unter Deng Xiaoping) als Gegenpol zu den Parteigremien eine gewisse Autonomie entfalten konnten. (zum tieferen historischen Verständnis dieser Entwicklung: Its still the party).

[2] Dieses Gesellschaftsmodell ist, laut offiziellem Geschichtsbild, eng mit der Geschichte der KPCh und der heroischen Geschichte des chinesischen Volkes verbunden. Es hat sich, laut Xi, auf der Basis von Marxismus, Leninismus, Mao Zedong-Ideen, staatlich gelenkter Marktwirtschaft (Deng Xiaoping) und Xi-Jinping-Doktrin entwickelt und wird, auf Basis Künstlicher Intelligenz, ständig weiterentwickelt. Alle Ereignisse in der jüngeren Geschichte Chinas sind im offiziellen Selbstverständnis der KPCh Teil der produktiven Entwicklungsgeschichte des chinesischen Gesellschaftsmodels: Schritte auf einem heroischen Weg, der zum „Sozialismus chinesischer Prägung“ führt. In diesem Interpretationsrahmen sind der „Lange Marsch“ (mit seiner Härte und Konsequenz: „Die Macht kommt aus dem Lauf der Gewehre“), der „große Sprung nach vorn“ (mit Millionen Hungertoten) die „Kulturrevolution“ (mit ihren Exzessen) oder die Niederschlagung der Demokratiebewegung (mit dem tabuisierten Massaker am Tien’anmen) Teil eines Entwicklungsprozesses, der das überlegene Gesellschaftsmodell hervorbrachte und weiter hervorbringt. Dieser Entwicklungsprozess darf unter keinen Umstanden in Frage gestellt werden.

[3] Parteiinterne Gegner dieser Ausrichtung wurden konsequent ausgeschaltet

[4] Nicht wie etwas ist, sondern wie etwas laut Modell sein sollte.

[5] Selbstverständlich sind die Dinge weit komplexer und vielschichtiger, als hier darstellbar. Beispiele: Überwachung, Kontrolle und Mindset-Lenkung verbreiten sich gegenwärtig in der westlichen Welt durch Ki-basierte Medien-Tech-Monopole massiv, wenn auch verdeckt und subtil. In China entwickeln sich Materialismus, Egoismus, Narzissmus und krasse Gegensätze zwischen Arm und Reich mindestens ebenso wie im Westen, obwohl Solidarität und Gemeinsinn propagiert werden. Widersprüchlichkeiten und Paradoxien durchziehen beide Systeme.

[6] Etwa: „Propagandagebrüll“, „In China hält sich sowieso keiner an die offiziellen Regeln“.

[7] Vgl. Kai Strittmatter (2018), Die Neuerfindung der Diktatur. Zum Totalitarismus vgl. Hannah Arendt (1955), Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft oder Umberto Eco (2020), Der ewige Faschismus.

[8] Die Geschichte der Psychotherapie im deutschen Faschismus ist ein lehrreiches Beispiel. Zur Geschichte des „Göring Instituts“ vgl.: Karen Brecht, Volker Friedrich, Ludger M. Hermanns, Isidor J. Kaminer, Dierk H. Juelich (Hrsg.): „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Art weiter …“ Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. 2., verbesserte Auflage. Michael Kellner, Hamburg 1985, ISBN 3-922035-98-1.

[i] Die chinesische Regierung verstößt gegen elementare Menschenrechte und versucht die Kultur der Uiguren auszulöschen: https://de.wikipedia.org/wiki/China_Cables, siehe auch: https://www.arte.tv/de/videos/083310-000-A/ueberwacht-sieben-milliarden-im-visier/, (Gulbahar Haitiwaji hat über den chinesischen Gulag ein erschütterndes Buch geschrieben). Ein klarer Bruch der chinesischen Verfassung: Art. 4.: Alle Nationalitäten in der Volksrepublik China sind gleichberechtigt. Der Staat schützt die legitimen Rechte und Interessen der nationalen Minderheiten und erhält und entwickelt die Beziehungen der Gleichberechtigung, der Einheit und des gegenseitigen Beistandes unter allen Nationalitäten Chinas. Die Diskriminierung und Unterdrückung jeglicher Nationalität sind verboten, desgleichen jede Handlung, die die Einheit der Nationalitäten untergräbt oder ihre Spaltung betreibt. In Übereinstimmung mit den Besonderheiten und Bedürfnissen der verschiedenen nationalen Minderheiten verhilft der Staat den von den nationalen Minderheiten bewohnten Gebieten zur beschleunigten Entwicklung ihrer Wirtschaft und Kultur. In den Gebieten, in denen nationale Minderheiten in geschlossenen Gemeinschaften leben, wird regionale Autonomie praktiziert; in jedem dieser Gebiete werden Selbstverwaltungsorgane zur Ausübung der Autonomie eingerichtet. Alle Regionen mit nationaler Autonomie sind untrennbare Bestandteile der Volksrepublik China. Allen Nationalitäten steht es frei, ihre eigene Sprache und Schrift anzuwenden und zu entwickeln; es steht ihnen frei, ihre Sitten und Gebräuche beizubehalten oder zu reformieren.

„Politik oder Kultur“? 

Natürlich gibt es in der politischen Entwicklung Chinas kulturelle und historische Aspekte, die Nichtchinesen nur schwer verstehen können. Und doch handelt es sich offensichtlich um ein primär politisches Projekt, und keineswegs, wie von einigen „Chinakennern“ gerne suggeriert, um eine chinatypische „kulturelle Entwicklung« die wir nur besser „verstehen“ müss(t)en (um sie akzeptieren zu können). Verstehen ist das eine, Die Preisgabe eigener Werte und Überzeugungen ist etwas ganz anderes.

Wer kulturalistisch, mit „chinesischer Kultur“ oder gar „Volkscharakter“, argumentiert, der verdunkelt und versimpelt die chinesische Geschichte[7] und die Geschichte der KP-Chinas. Wer so argumentiert, der verhöhnt die Opfer der Kulturrevolution ein zweites Mal und ebenso die Oppositionellen, die heute in den Gefängnissen schmoren oder wie Ai Weiwei im Exil leben müssen. Wer so argumentiert, der verleugnet die Millionen von Chinesen, die 1989 im „chinesischen Frühlung“ monatelang für Demokratie und Menschenrechte auf die Straßen gingen, tritt die Opfer des Massaker auf dem Tiananmen-Platz noch einmal mit Füßen (Demokratiebewegung: poetisch erzählt in dem großen Roman von Madeleine Thien (2017), Sag nicht, wir hätten gar nichts). Wer so argumentiert, der ignoriert 90 % Prozent der Bevölkerung Hongkongs, die noch 2019 Kandidat*innen wählten, die sich für Demokratie und Menschenrechte aussprachen. Wer so argumentiert, der nimmt die erstaunliche demokratische Entwicklung Taiwans nicht zur Kenntnis[8].

Das Monströse ist immer menschengemacht. Ob es um Familienstrukturen, Kirchenstrukturen, Schulstrukturen, Organisationen oder staatliche Strukturen geht, alle, wirklich alle, Untersuchungen zu diesem Thema verweisen auf vier herausragende kulturübergreifende Milieufaktoren, die ein erheblich erhöhtes Risiko für den Missbrauch von Macht und Gewalt darstellen: (a) Strikte und starre Hierarchien und damit verbundene Loyalitätsbindungen, (b) Abschottung nach Außen und „Omerta“ (ein Verschwiegenheitsgebot und eine Verschwiegenheitsmentalität, die Täter schützt und Opfer einschüchtert), (c) großes Machtgefälle innerhalb der Hierarchien, und (d) personale Überhöhung von Funktionsträgern, die angeblich einen „besonderen“ Zugang zu etwas „Höherem“/Heiligen/einem Ideal besitzen (Götter, höhere Weisheiten, Wille des Volkes, Wille des Proletariats…). Gemeinschaften oder Milieus, die sich auf die beschriebene Weise organisieren, bergen – egal in welcher Kultur, an welchem Ort oder zu welcher Zeit – ein erhöhtes Risiko  für den Missbrauch von Macht und Gewalt (gewaltsame körperliche, mentale oder psychische Übergriffe), sowohl gegenüber Einzelnen als auch gegenüber Gruppen oder ganzen Gemeinschaften.

Freies Denken und Sprechen – für Psychotherapie unverzichtbar

Der chinesische Macht-und Staatsapparat errichtet gegenwärtig in allen Bereichen Strukturen der totalen Überwachung, Herrschaft und Kontrolle, die den Missbrauch von Macht und Gewalt zumindest begünstigen (Anmerkung[iii]). Das betrifft selbstverständlich auch alle Bereiche der Gesundheit und der Gesundheitspolitik, und damit die Psychotherapie (Vgl. konkret dazu u.a.: ChinaDepression1, ChinaDepression2.). Wir kennen das aus unserer eigenen, der deutschen Geschichte, Macht kann im Sinne eines „übergeordneten Guten“ pervers und grausam missbraucht werden. Uwe Timm hat diese Möglichkeit zur Perversion in seinem Roman Ikarien (2017) über den Eugeniker und Begründer der deutschen Rassenhygiene, Alfred Ploetz, poetisch meisterlich dargestellt. Können wir so tun, als sei da nichts und sei da nichts gewesen?

Die oben skizzierte Entwicklung bildet den Kontext des Unterrichtens in China, und es gilt: alle Kommunikation ist kontextabhängig. Alles, was ich tue und nicht tue, sage und nicht sage, verändert sich in seiner Bedeutung durch den Kontext[11]. Die politische Entwicklung in China wirft daher grundlegende fachliche und ethische Fragen auf, denen kein Therapeut, keine therapeutische Vereinigung ausweichen kann.[9] Die Entwicklung kann nicht einfach ignoriert, beschönigt, verschwiegen oder beschwiegen[10] werden, ohne gegen die eigenen Werte und Prinzipien zu verstoßen.

Die moderne Psychotherapie – mit ihren fachlichen Standards und ethischen Grundsätzen – ist zweifellos ein Kind persönlicher, bürgerlicher Freiheiten und demokratischer Werte. Psychotherapie konstituiert und gestaltet einen wohl geschützten intersubjektiven Raum, der freies Denken, Fühlen und Sprechen ohne Tabus ermöglichen soll. Es ist kein Zufall, dass Fragen, wie ein solcher Raum „hergestellt“ werden kann, im Zentrum aller fachlichen und ethischen Überlegungen stehen. Ein Rahmen aus Freiwilligkeit, gegenseitigem Respekt, Vertrauen, Wertschätzung und Vertraulichkeit ist unverzichtbar, um Klienten vor (weiteren) Schädigungen, Vertrauensbrüchen, Missbrauch von Macht oder unzulässiger Manipulation zu schützen[12]. Dafür tragen Therapeuten/-innen in Praxis und Ausbildung eine besondere Verantwortung.

In meiner Welt sind freies Denken und Sprechen persönlich und gesellschaftlich so wichtig wie Atmen. Die Würde des Menschen ist unantastbar und eine Zensur findet nicht statt, diese Sätze gehören zusammen. Wenn wir sie anderen zumuten, die nicht so denken und sprechen wollen, oder können oder dürfen, dann ist das kein Akt kultureller Überheblichkeit, sondern ein Akt menschlicher Solidarität.

Weitere Anmerkungen

[1] Die Geschichte zeigt: Bei der Verfolgung von Zielen war die KP-Chinas noch nie „zimperlich“.

[2] KI-unterstützte Zensur und absolute Kontrolle, Sozialkredit-Systeme, massive Propaganda und Manipulation, Unterdrückung abweichender Meinungen, Fernseh-Pranger, Kerker, Gehirnwäsche, kultureller Genozid in Xinjiang

[3] Nationaler Chauvinismus, militärische Aufrüstung, Auslandsinvestitionen in Verbindung mit Schuldendienst, Export des totalitär-harmonisierenden Gesellschaftsmodells („Der chinesische Weg“), weltweite Durchsetzung des Geschichts- und Weltbildes der KP-Chinas unter Androhung von Zensur und Bestrafung.

[4] Was im Prinzip „alles“ sein kann, zum Beispiel diese Äußerung in meinem Blog

[5] Auf dem ideologischen Schulungsplan der KP: Nationaler „Patriotismus“, die „Xi Jinping Gedanken“ und die „zwölf sozialistischen Kerntugenden“.

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Propaganda_in_der_Volksrepublik_China

[7] In Shanghai gibt es ein jüdisches Museum. Es dokumentiert, mit welcher Gastfreundschaft und Großzügigkeit Chinesen europäische Juden auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus aufnahmen und Schutz gewährten, obwohl sie selbst unter der grausamen japanischen Besatzung litten!

[8] An diesem Beispiel wird nur deutlich, wie »Kultursensibilität« zur politischen Gegenaufklärung werden kann. It’s politics, not cultur, stupid. Nein, so sind »die Chinesen« nicht! Gerade uns Deutschen müsste doch der heillose Unfug einer solchen Argumentation sofort auffallen.

[9]          Fakten, die in der »freien Welt« für alle, die es wollen, leicht zugänglich und überprüfbar sind.

[10] Damit haben wir Deutschen nun wirklich Erfahrung, und es gibt eine Menge guter Literatur über die Frage, wie sich ein solches Beschweigen auswirkt; z.B. Jürgen Müller-Hohagen (2005).  Verleugnet, verdrängt, verschwiegen: Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung.

[11] Die Geschichte der Psychotherapie im deutschen Faschismus ist dafür ein lehrreiches Beispiel. Zur Geschichte des „Göring Instituts“ vgl.: Karen Brecht, Volker Friedrich, Ludger M. Hermanns, Isidor J. Kaminer, Dierk H. Juelich (Hrsg.): „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Art weiter …“ Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. 2., verbesserte Auflage. Michael Kellner, Hamburg 1985, ISBN 3-922035-98-1.

[12] Vgl. dazu Bleckwedel, J. „Supervision als praktizierte Ethik“. Unveröffentliches Manuskript.

  • Einführung eines KI-gestützten Sozialkreditsystems (auch: Soziales Bonitätssystem) ab 2020: die flächendeckende und lückenlose Unterscheidung zwischen Vertrauenswürdigen und Vertrauensbrechern sanktioniert alle Personen, die nicht „vertrauenswürdig“ sind. Das System soll im neuen chinesischen Gesellschaftsmodell „Stabilität und Harmonie“ herstellen und gewährleisten. Es ist ein Gegenmodell zu einer unabhängigen Justiz.
  • Von Dezember 2019 an bekommt nur noch einen Internet Anschluss oder eine Handynummer, wer zuvor sein Gesicht scannen lässt, zur Überprüfung der Identität. Die chinesische Regierung strebt eine lückenlose digitale Überwachung aller Bürger (und Personen, die sich im Land bewegen) und ihre Aktivitäten an, Mithilfe von Big Data und künstlicher Intelligenz. Anonymität oder intimität wird es in einem solchen System nicht mehr geben. Jede online Aktivität (Zum Beispiel beim Banking, beim kaufen von Karten, oder bei schlichten Suchanfragen im Internet) kann in Bruchteilen von Sekunden einer Person zugeordnet werden. Die digitale Organisation des Alltags ist in China bereits weit fortgeschritten, überall wird mit dem Handy bezahlt, Universitäten kontrollieren per Gesichtserkennung, wer den Campus betritt und verlässt, und mit Hilfe eines landesweiten Netzwerkes aus 600 Millionen Kameras werden Menschen auf der Straße überwacht, oder können identifiziert werden, zum Beispiel wenn sie bei Rot über die Straße gehen oder gegen andere Verkehrsregeln verstoßen (In einigen Städten wenn sie „on time“ auf Bildschirm öffentlich angeprangert). Die chinesische Regierung wirbt weltweit für Konzept und Techniken , sie sollen zu einem Exportschlager werden. Eine jährliche Internet Konferenz ist diesem Thema gewidmet. Die digitale Überwachung hat bereits heute sehr analoge Konsequenzen: regelmäßig werden Menschen verhaftet, die sich gegenüber der Regierung kritisch geäußert haben oder sich für kritische Inhalte interessieren.

Reisedokumentation „Mein anderes China“ von Pascal Nufer auf 3sat im AprilMai 2020: https://pressetreff.3sat.de/programm/dossier/mappe/showDossier/Special/mein-anderes-china-vierteilige-reisedoku-mit-srf-korrespondenten-pascal-nufer/

[iv] Ich mag das Land und die Leute sehr. Die bittere Wahrheit ist aber auch, wer in China unterrichtet, wird unweigerlich Teil eines politische Systems. Dieses System funktioniert (a) durch repressiv erzwungene, „freiwillige“ Verdrängung, Verleugnung und „Zurücknahme“ abweichender Meinungen und Gedanken („Selbstkritik“), und (b) durch propagandistisch erzeugte Zustimmung zum „chinesischen Traum“. Mit anderen Worten: Die Ideologie der KP, das Bild, das die Partei von der Welt malt, durchdringt die Seelen der Menschen, es bestimmt, was und wie sie fühlen, und es beherrscht alle Kommunikationen. Wer das System und seinen Traum kritisiert, bringt sich selbst und andere in Gefahr.

Weltklugheit – unterwegs mit Georg Stefan Troller

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Auslegung der Wirklichkeit – Eine filmische Sternstunde mit Stefan Georg Troller (Ein Film von Ruth Rieser)

Georg Stefan Troller hat in seinem Reporterleben Hunderte Prominente interviewt: von Muhammad Ali über Edith Piaf bis Woody Allen. Zu seinem 100. Geburtstag wird er selbst in einem Film überaus einfühlsam portraitiert von Ruth Rieser. Wie kann man mit Hundert geistig noch so unglaublich wach und präsent sein? Ein Film über das Leben und Überleben, die Liebe, das Unbegreifliche und Naheliegende, über Fragen und Sprechen und Raum geben, über die Verlebendigung des Gefühls im Dialog, über Freude, Verlust und Hoffnung, über Zugehörigkeit, Demut und den Sinn des Lebens – eine Lebensreise, zutiefst geprägt vom Humor und der Weisheit eines hundertjährigen Überlebenden aus Wien. Ein Lehrfilm für Therapeut:innen.

Leider ist der Film in der 3-sat Mediathek nicht mehr verfügbar, dafür:

Ein Gespräch mit Georg Stefan Troller in Paris

 

 

 

 

 

Mitmenschlichkeit und Grausamkeit – zur Ambivalenz der Kulturentwicklung

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Mitmenschlichkeit und Grausamkeit – zur Ambivalenz der Kulturentwicklung. Ein Exkurs:


Einen Eindruck von der Ambivalenz der Kulturentwicklung vermittelt ein Bericht über die Achè. Die Achè, ein Stamm von Jägern und Sammlern, verfolgten bis in die 1960er Jahre hinein seinen ursprünglichen Lebensstil und die durchstreiften die Urwälder Paraguays: »Wenn ein angesehenes Mitglied der Gruppe starb, töteten die Aché traditionell ein Mädchen und bestatteten die beiden zusammen…Wenn alte Frauen der Gruppe zur Last fielen, schlich sich ein junger Mann von hinten an sie heran und erschlug sie mit einer Axt…Kinder, die ohne Haare zur Welt kamen, galten als unterentwickelt und wurden sofort getötet…Bei einer anderen Gelegenheit erschlug ein Mann einen kleinen Jungen, ’weil er immer schlecht gelaunt war und viel weinte‘. Ein anderes Kind wurde lebendig begraben, ’weil es komisch aussah und die anderen Kinder es gehänselt haben’»[1]. Die Anthropologen, die lange mit den Aché zusammenlebten, berichten andererseits, »es sei ausgesprochen selten zu Gewalt zwischen Erwachsenen gekommen. Frauen und Männer konnten nach Belieben ihre Partner wechseln. Sie lächelten und lachten unaufhörlich, hatten keine Anführer und mieden herrschsüchtige Stammesgenossen. Sie waren ausgesprochen großzügig und hatten kein Interesse an Erfolg oder Wohlstand. Harmonisches Zusammenleben und gute Freundschaften waren ihnen wichtiger als alles andere im Leben« (ebd. S. 73). Ich nehme an, wir unterscheiden uns im Grunde nicht allzu sehr von den Achè. Gewalt und Mitgefühl[2]liegen oft näher beieinander, als uns lieb ist, und wenn wir darüber nachdenken, befällt uns jenes »Unbehagen in der Kultur«, von dem bereits Freud (1930) spricht.

Ich glaube aber, dass ein aufgeklärter Humanismus sich mit dem auseinandersetzen muss, was wir lieber nicht wissen wollen[3] (vgl. Hustvedt (2015, S. 281). Erst dann erhalten wir ein realistisches und vollständiges Bild von den Ausgangsbedingungen, mit denen wir zu allen Zeiten und an allen Orten rechnen müssen, gerade wenn wir ein möglichst gutes und gelingendes Zusammenleben gestalten wollen. Ich nehme an, dass Hannah Arendt auf diesen Zusammenhang hinweisen wollte, als sie schrieb: „Der europäische Humanismus, weit davon entfernt, die Wurzel des Nazitums zu sein, war auf diesen oder auf irgendeine andere Form totaler Herrschaft so wenig vorbereitet, dass wir uns beim Verständnis dieses Phänomens und bei seiner Einordnung weder auf die begriffliche Sprache noch auf die traditionellen Metaphern dieses Humanismus verlassen können. Darin liegt jedoch eine Bedrohung für alle Formen des Humanismus: Ihm droht die Gefahr, irrelevant zu werden“ (Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft).

Mitmenschlichkeit und Grausamkeit scheinen als Möglichkeit in uns allen und zwischen uns angelegt zu sein, ein ambivalentes Potenzial, das sich in bestimmten Situationen[4], so oder so, zeigt. Es fällt uns schwer, dieses destruktive Potenzial in uns zu akzeptieren, deshalb neigen wir dazu, in unseren Weltsichten alles Destruktive, Barbarische oder Bösartige abzuspalten oder auszulagern[5]. Ein aufgeklärter Humanismus hingegen muss einen begrifflichen Rahmen schaffen, in dem Mitmenschlichkeit und Grausamkeit als zwei Seiten der menschlichen Entwicklung auftauchen, mit dem Ziel, Gewalt einzudämmen und Mitgefühl zu bestärken. Jeder Mensch habe, sagt Margaret Atwood, »…ein nobles Ich (das Ich, das wir gerne wären), ein Alltags-Ich (das einigermaßen manierlich daherkommt), und ein verborgenes, viel weniger tugendhaftes Ich, das in Augenblicken der Bedrohung und Wut hervorbrechen und unsägliche Dinge tun kann«[6]. Davon müssen wir ausgehen.
Zweifellos beobachten wir in der Kulturentwicklung eine beachtliche Zunahme an Kooperation, sozialer Verantwortlichkeit, altruistischem Handeln, uneigennützigem Teilen, Solidarität und Toleranz. Das gilt jedoch zunächst meist nur innerhalb der eigenen Gruppe, des eigenen Stamms oder Clans. Die andere Seite der Kulturentwicklung zeigt sich, wenn Personen als außerhalb der eigenen Gruppe liegend, als nicht zugehörig angesehen werden. Ignoranz, Raub, Mord und Totschlag, Folter, Versklavung, grausame Gewalt, alles ist dann möglich[7].

Konkurrenz, Rivalität und kooperative Aggression[8] zwischen Gruppen spielt eine bedeutende Rolle unter Menschen: »Wenn eine Gruppe kooperiert, um eine andere anzugreifen, ist die wirksamste Antwort darauf normalerweise, bei der Verteidigung ebenfalls zu kooperieren…Das Entwerfen von Schlachtplänen und Strategien, die Entwicklung von Waffentechnik, Organisation und Verwaltungseinrichtungen, Bluffen und Täuschen, Tapferkeit und Heldentum sind nur einige der Merkmale, die durch permanente Bedrohung und Konflikte selektiert worden sein mögen« (Suddendorf, 2020, 353). Beim Jagen wilder Tiere, in der Auseinandersetzung mit anderen Clans oder anderen Menschenarten können Menschen, kollektiv verstärkt, äußerst aggressiv, brutal und grausam agieren. Vor etwa 2 Millionen Jahren begannen die ersten Homini, vorher Sammler und Vegetarier, Aas zu essen[9]. Später  beginnen die Homini zu jagen, um frisches Fleisch zu erbeuten. Aus Gejagten werden Jäger. Um schnelle Tiere oder gefährliche Raubtiere, die körperlich weit überlegen sind, zu jagen und zu töten, erfinden die schlauen Menschen psychologische Tricks, Waffen und neue Kampftaktiken. Als Kollektiv setzen sie kooperative Kampftechniken ein, und individuell schlüpfen sie, dank ihrer mentalen Stärke, in die Rolle von Tieren, die sie jagen, sie bewegen sich wie sie, ahmen deren Bewegungen, Kampftechniken und Kampfmimiken nach. Frauen blieben wahrscheinlich eher bei den Kindern am Feuer, Männer gingen auf die Jagd, »was körperlich extrem anstrengend ist: Sie mussten Beute aufspüren, verletzen, einer Blutspur tagelang folgen, schließlich das Tier mit Speer und Stein umbringen. Unsere These lautet, dass diejenigen Männer besonders großen Jagderfolg hatten,…die solche Entbehrungen als lustvoll empfunden haben…Hinzu kam, dass die Menschen sich bei Jagd und Kampf zusammengeschlossen haben, um große Tiere wie Mammuts oder feindliche Horden niederzumachen. Deshalb ist Gewalt in Gruppen für Männer besonders faszinierend«[10]. Diese Faszination hat eine dunkle Seite: kollektive Tötungslust[11]. Sicher können Menschen jeder geschlechtlichen Art oder Orientierung gewalttätig und grausam sein, doch Kampfgruppen im kollektiven Tötungsrausch sind fast immer »männlich« besetzt. Männer lernen in Männerbünden[12] sich vor einem Kampfereignis gegenseitig »heiß« zu machen, sich dem Kampfrausch hinzugeben, und sich hinterher für Gewaltakte und Grausamkeiten zu bewundern und zu feiern.

In Krisenzeiten kann die Situation zudem auch innerhalb von Gruppen schnell kippen. Wenn Ressourcen – Nahrung, Wasser, Jagdgründe, Sexualpartner[13] – knapp werden, zeigen sich gewalttätige und grausame Verhaltensweisen auch innerhalb der eigenen Gruppe. Wenn der Contract Social (Rousseau, 1762) zerbricht, wird deutlich, dass jede soziale Organisation aus einem fragilen Netzwerk von Beziehungsdefinitionen besteht, das leicht zerbrechen kann, wenn die Bedingungen sich verändern.

Der Prozess der Zivilisation ist ambivalent[14] – europäischer Kolonialismus und europäische Humanismus gingen Hand in Hand -, und er bleibt störanfällig. Unter der Oberfläche pulsiert eine wilde oder rohe Intoleranz (Eco, 2020, S. 56), die jederzeit aufbrechen kann. Wie Menschen  handeln, hängt immer von den äußeren Bedingungen und den inneren Landkarten ab.

 

[1]  Kim Hill und A. Magdalena Hurtado. Aché Life History, zit. nach Harari (2015). Eine kleine Geschichte der Menschheit, S. 72 und 73.

[2] Eine ausführliche und lesenswerte Darstellung dieses Themas findet sich bei Sapolsky, 2017

[3] Vgl. Hustvedt (2015, S. 281)

[4] Vgl. Philipp Zimbardo, 2005, Das Stanford Gefängnis Experiment.

[5] Nicht wir sind es, nein es sind Dämonen, Götter, Teufel, der Kapitalismus, der Kommunismus, die Umstände des Heranwachsens, das „Tierische“ in uns, in Zweifelsfall aber immer die Anderen.

[6]  Margaret Atwood (2017). Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels

[7] Deshalb erfüllt uns auch kaum etwas mit mehr Schrecken, als von der eigenen Gruppe, dem eigenen Clan, dem eigenen Volk, ausgeschlossen zu werden. Schon eine indirekte Drohung reicht aus, um Menschen gefügig zu machen

[8]  »Die gemeinen Schimpansen sind die einzigen weiteren Primaten, von denen bekannt ist, dass sie kooperieren, um Mitglieder der eigenen Spezies zu töten« (Suddendorf, 2014, S. 26.), vgl. auch ebd. S. 354

[9]  Vgl. Lewis R. Binford (1981). Bones. Ancient Men and Modern Myth.

[10] Thomas Elbert, SZ-Interview 28/29.8.2010

[11] Vgl. Klaus Theweleit (2015), Das Lachen der Täter.

[12]  Männerbande – Männerbünde Lit angabe….

[13]  Später: Territorien, Anbaugebiete, Bodenschätze, Macht, Kapital, Aufmerksamkeit (Frank, 1998), Anerkennung, Ruhm, Wohnräume, Bildungs- Beteiligungs- und Entwicklungschancen, Sicherheit.

[14]  Vgl. Zygmund Baumann (2005). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit.

Menschenrechte – Menschenpflichten

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Garantiert eine Gemeinschaft individuelle Rechte, dann ergeben sich daraus auf Seiten der Individuen  Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft.

Die Würde des einzelnen Menschen bleibt unantastbar, selbst wenn eine Person ihren Verpflichtungen
gegenüber der Gemeinschaft nicht gerecht wird. Daher bleibt dem Mensch (in der Demokratie) immer das Recht, seine Rechte vor einem unabhängigen Gericht zu vertreten und einzuklagen.

Moralisch gesehen kann aber nur der Rechte, die von einer Gemeinschaft garantiert werden, einfordern, der versucht, seinen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft nachzukommen.

Die Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft besteht darin, eben jene Rahmenbedingungen zu erhalten, die die individuellen Rechte und die Menschenwürde garantieren.

(Mehr dazu bei Charles Taylor, 2001: Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie).

Melancholie und Furcht – 50 Jahre Kulturrevolution

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Melancholie und Furcht – 50 Jahre Kulturrevolution

IMG_2555 50 Jahre Kulturrevolution – ein Anlass zum Innehalten und Nachdenken

Am 16. Mai 1966, Heute vor 50 Jahren, begann in China die Kulturrevolution. Ein  utopisches Experiment, das nichts weniger als die Geburt eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft zum Ziel hatte. Was lernen wir?

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Hintergrund “ Der große Sprung nach vorne“ (1958-1961) führte in ein ökonomisches Desaster und eine humanitäre Katastrophe (geschätzte 30-40 Millionen Opfer). Die Kampagne musste vorzeitig abgebrochen werden. Das Land lag am Boden. In der KP gewannen Reformer zunehmend an Einfluss. Mao Tse Tung, mythenumrankter Vorsitzender, Liebling der Massen und Vertreter einer radikalen Gesellschaftsutopie sah seine Macht bedroht. In dieser Situation erfand Mao eine neue Kampagne – inspiriert von der Idee der permanenten Revolution. Die Kulturrevolution.

Idee/Strategie/Mittel. Die Kulturrevolution: Eine Revolution neuen Typs mit dem Ziel, die Mitte der Gesellschaft zu zerstören und den Überbau zu revolutionieren, angeordnet und angetrieben von ganz oben (Mao), weitgehend selbstorganisiert ausgeführt von einer entfesselten Jugend. Damit verfolgte der alte Kämpfer Mao zwei Ziele: a) Die Verwirklichung seiner radikalen Gesellschaftsutopie (plus dickem Eintrag ins Geschichtsbuch) b) die Ausschaltung seiner innerparteilichen Rivalen und ehemaligen Mitkämpfer. Eine strategische Meisterleistung, ein Plan irgendwo zwischen genial und diabolisch.

China-Kulturrevolution-Propaganda-PlakatIn der Wahl seiner Mittel hatte Mao nie Skrupel gezeigt. Devise: der Zweck heiligt die Mittel. Jetzt setzte er seinen ganzen Nimbus, seine Autorität und seine Beliebtheit bedenkenlos ein. Sagenhafter Anführer des „Langen Marsches“, siegreicher Feldherr im Kampf gegen den westlichen Kolonialismus, Bezwinger des brutalen japanischen Imperialismus, Sieger im Bürgerkrieg gegen die Kuomintang.

Der Vorsitzende Mao war der gottgleiche  Bauernsohn, der am 1. Oktober 1949 mit der Proklamation der Volksrepublik China ein „Jahrhundert der Schande“ beendet und dem Land, nach all den Demütigungen, seinen Stolz und seine Würde zurück gegeben hatte. Auf dem Fundament eines beispiellosen Personenkults entfachte die Gruppe um Mao einen befreiungstheologisch inspirierten Propagandasturm – Rebellion ist gerechtfertigt, Bombardiert das Hauptquartier – der die „Roten Garden“ (Kinder, Schüler, Studenten) in ihrem Furor gegen die „Machthaber und Autoritäten auf dem falschen Weg“ nach vorne peitschte.

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Eigentlich undenkbar in einer konfuzianisch geprägten Kultur, deren höchster Wert der Respekt vor den Eltern und allen Autoritäten darstellt. Und offenbar doch möglich. Wenn der Befehl von ganz oben kommt, von einem gottgleichen neuen Mandarin. Und wenn es einer gewissenlosen, ideologisch aufs Absolutezielenden Propaganda gelingt, die vermeintlichen Gegner der paradiesischen Erneuerung  als Erzfeinde zu dämonisieren. Eine Umwertung aller Werte (Nitsche), kalt geplant und kühn umgesetzt in einem „revolutionären Akt“.

Verlauf. Offiziell gestartet als Rebellion der Massen gegen eine neue, bürokratische Unterdrückerkaste entwickelte sich die Kulturrevolution schnell zu einer irrsinnigen und wahnwitzigen Hetzjagd, zum jakobinischen Exzess.

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Das Land versank in einem albtraumhaften, allgegenwärtigen Terreur, der erst 1976 mit dem Tod Maos endete. Die Kulturrevolution, anfangs ein euphorisierendes Abenteuer, ein Rausch, größer als jeder Tripp, den ein Joint je hervorbringen könnte, endete in einem monströsen Kater. Zehn Jahre Kulturrevolution hinterließen ein desillusioniertes, kollektiv traumarisiertes Land am Abgrund. Eine Nation, seiner Moral beraubt und bis auf die Wurzeln der Existenz verunsichert in seinem Empfinden für Werte. Ein Land voller Paranoia und Misstrauen. Eine Bevölkerung, die im chaotischen Terror der  Kulturrevolution den Glauben an sich selbst und die Möglichkeit einer geistig-moralischen Erneuerung verloren hatte. Wie könnte es nach dieser Erfahrung anders gewesen sein? Menschen mit zerstörten Seelen, die möglichst schnell vergessen wollten.

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Welche Bedeutung hat die Kulturrevolution Heute für das Land? Dieser Frage geht Kai Strittmatter, langjähriger Korrespondent der SZ in Peking, in einem kundigen und kunstvollen Essay nach. Besser kann man es nicht sagen:

Von Kai Strittmatter

Das große Misstrauen

Vor 50 Jahren riss der machtbewusste Mao mit seiner Kulturrevolution sein Land in den Abgrund. An den Folgen leidet die chinesische Gesellschaft bis heute.

Unvergessliche Zeiten seien das für sie gewesen, unvergesslich schön. Sagt die eine Freundin, die in den Pekinger Filmstudios aufwuchs, dem Arbeitsplatz von Vater und Mutter. Die Eltern steckten bis nachts bei Kritik- und Kampfsitzungen. Die kleinen Kinder derweil: allein. Frei. Durchstreiften die Studios, welche die Arbeit eingestellt hatten. Versteckten sich. Fanden sich. Schlugen sich. Vertrugen sich. Spielten. Ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre. „Wir hatten eine grenzenlose Freiheit.“ Oder der andere Freund, den der Vater als Sechsjährigen zur Großmutter brachte, in Sicherheit. Aufs Dorf, für die schlimmsten Jahre. Angekohlte Süßkartoffeln, die Hosen voller Matsch, den Kopf voller Blödsinn. Seine Augen leuchten. „Es war ein einziges Abenteuer.“

Gute Erinnerungen an die Kulturrevolution und an Mao Zedong pflegen auch andere. Dann allerdings weniger von Unschuld durchdrungen denn mit Ignoranz und Blindheit geschlagen. Die Unternehmer in Henan, die Anfang dieses Jahres eine 36 Meter hohe Mao-Statue aufs Feld stellten, ganz in Gold. Die chinesischen Touristen, die sich in New York vors Hauptquartier der Vereinten Nationen stellten und gut gelaunt im Chor „rote Lieder“ sangen: „Der Sozialismus ist gut. Die Reaktionäre werden gestürzt.“ Die Studenten in Harbin, die sich für ihre Abschlussfeier zum Spaß als Rotgardisten verkleideten und die Demütigung von Klassenfeinden nachstellten. Klar: jahrelang schulfrei, kostenlos Zug fahren, ungestraft korrupte Beamte verprügeln, das hatte was. Oder?

Es war dies aber die Zeit, in der Schülerinnen ihre Direktorin totschlugen, in der Studenten ihre Professoren ersäuften, in der Ehemänner ihre Frauen ins Arbeitslager schickten und Söhne ihre Mütter aufs Schafott. Manche Klassenfeinde wurden lebendig begraben, andere geköpft und gesteinigt, in der Provinz Guangxi wurden mehreren Dutzend „Feinden“ Mao Zedongs Herz und Leber herausgerissen und verspeist. Man kann solche Dinge nachlesen, zum Beispiel in den Büchern „Die alte Welt zerschmettern“ des Historikers Bu Weihua und „Scarlet Memorial“ (Scharlachrotes Gedenken) des Journalisten Zheng Yi. Das heißt, nein: Man kann das in China nicht nachlesen, denn diese Bücher sind dort verboten.

Die Kommunistische Partei vergisst gerne. Noch lieber lässt sie vergessen. Mit dem Tiananmen-Massaker vom Juni 1989 hat das prima funktioniert. Mit dem Großen Sprung nach Vorne (1958 bis 1961, zwischen 30 und 40 Millionen Tote) sowieso. Mit der Kulturrevolution – im Parteisprech die „zehn Jahre Chaos“ – ist das ein wenig komplizierter. Weil sie alle mitgemacht haben, die heute über 55 oder 60 Jahre alt sind. „Lauf durch die Stadt, geh in die Parks, wo die Älteren tanzen und schau dir ihre Gesichter genau an“, sagt ein Freund. „Ein jeder war dabei.“ Als Opfer. Als Täter. Viele waren beides. Xi Jinping ist der erste KP-Chef und Staatspräsident aus der Generation derer, die von Mao Zedong auserkoren waren, das Land ins Paradies zu führen. Und die es dann in Inferno und Barbarei stürzten. Die Opfer, die Täter, sie sitzen heute an den Schaltstellen der Macht, in Politik und Wirtschaft. Die Zeit hat sie geprägt, und egal auf welcher Seite sie standen: Sie fürchten die alten Geister.

Ein halbes Jahrhundert ist das nun her. Am 16. Mai 1966 gab Mao Zedong den Startschuss für diese Eruption von Idealismus und Gewalt, von religiösem Eifer und Sadismus. Aber 50 Jahre sind nicht lang. Eine Million Tote. Eine Volkswirtschaft in Ruinen. Ein Volk, dem das Rückgrat gebrochen wurde. Oder nein: das sich selbst das Rückgrat gebrochen hat. Bis heute hat sich China nicht erholt von der Kulturrevolution. Sie mag ein diabolischer Schachzug Mao Zedongs gewesen sein, den seine Rivalen nach dem Irrsinn des Großen Sprungs zur Seite gedrängt hatten. Mit Hilfe der Kinder holte er sich die Macht zurück. „Bombardiert die Hauptquartiere“, befahl er ihnen. Er rief sie zum Sturm auf die Autoritäten. Die Jugend horchte, jubelte, verfiel in Raserei. Ja, Mao hatte die Meute losgelassen. Aber keiner zwang sie, die Tempel zu schleifen, die Bücher zu verbrennen, den Nachbarn zu denunzieren, die Lehrerin mit Kot und Blut zu beschmieren, den Professor zum Sprung aus dem Fenster zu treiben. Sie taten es einfach. Im Namen hehrer Ideale, aus dunkelsten Motiven.

Chinas Gesellschaft heute ist keine gesunde. Das hat einiges mit den Herrschaftsmechanismen der KP zu tun. Und wesentlich mit der Kulturrevolution. Kleine Umfrage unter Bekannten. Der Ökonom: „Die Kulturrevolution steckt uns in den Knochen. Wenn hier keiner irgendeine Regel einhält; wenn die Leute bereit sind, einander wegen kleinster Streitigkeiten an die Gurgel zu gehen, das hat mit damals zu tun.“ Die Lehrerin: „Das Sich-dumm-Stellen. Das ewige ‚Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht. Ich sage nichts.’“ Der Maler, der damals ebenfalls Kind war: „Wir Chinesen haben kein Immunsystem mehr. Das Problem ist nicht, dass uns die eine oder andere Krankheit befällt. Das Problem ist, dass unser ganzes Immunsystem kollabiert ist und wir als Gesellschaft seither gegen jede Art von Krankheit machtlos sind.“ Er zählt auf: die materielle Gier, die Tatsache, dass Werte nichts mehr zählen, dass Empathie und Mitleid fehlen – „all das hat seine Wurzeln auch in der Katastrophe damals.“ Drei Klagen, die man in China wieder und wieder hört: Wir fühlen uns unsicher. Es gibt keine Moral. Es gibt kein Vertrauen. Das vor allem. 2013 veröffentlichte die Akademie der Sozialwissenschaften in Peking ein Blaubuch über die „Seelische Verfassung der chinesischen Gesellschaft“, und stellte den kompletten Vertrauensverlust fest. „Keiner vertraut in China keinem“, sagte damals Wang Junxiu, einer der Autoren. Die Studie macht Faktoren wie die schnelle Urbanisierung mitverantwortlich, aber im Gespräch verwies Wang bald auf die Kulturrevolution: Nie habe mehr Misstrauen unter den Chinesen geherrscht. „Aber wissen Sie was?“, sagt er dann: „Gleichzeitig war das Vertrauen in die Parteiführung nie höher als damals.“ Es war mehr als Vertrauen, es war der blinde Glaube an den Messias Mao.

Seit einiger Zeit wittern die Neo-Marxisten Morgenluft, sie beschwören die gute alte Zeit.
Sie haben einander damals über Jahre hinweg gedemütigt, verraten, misshandelt, getötet. Kinder ihre Eltern. Eheleute einander. Der eine Kollege den anderen. Kollektive Traumata, die Forschung hat das an Holocaust- und Kriegsüberlebenden studiert, werden über Generationen weitergegeben. Und nein, sie sollen sich nicht darüber austauschen, sie sollen sich nicht erinnern. Die Partei gibt nicht nur die Marsch-, sondern auch die Blickrichtung vor: starr nach vorne. Die Partei hat sich neu erfunden als Mutter der „harmonischen Gesellschaft“. Parteichef Xi Jinping verlangt „positive Energie“ von Chinas Intellektuellen, Künstlern, Kadern, Journalisten und Bürgern. Doch, es gab schon in den 1980ern Memoiren und Romane, die das persönliche Leid Einzelner thematisierten, aber die Frage nach den Wurzeln der Katastrophe war immer tabu. Die Archive sind bis heute geschlossen.

Was die Deutschen und andere Völker Vergangenheitsbewältigung nennen, heißt im China der KP „historischer Nihilismus“ und ist eine der sieben Todsünden. Erinnern ist subversiv. Man kann das schon machen, den Schmerz, die Scham und die Schuld begraben unter Schweigen und Vergessen, unter Konsum und Gier, aber dass die Wunde da unten weiter schwärt, dass Eiter und Gift durch die Ritzen nach oben kriechen, das wird man nicht verhindern.

Zu 70 Prozent sei Mao gut gewesen, war das offizielle Urteil der Partei unmittelbar nach Maos Tod, und zu 30 Prozent schlecht. Xi Jinping, der Parteichef, machte gleich nach seinem Amtsantritt klar, dass er das Volk nicht an die dunklen 30 Prozent Maos erinnert haben wollte. Xi spielt eine merkwürdige Rolle. Seine Familie gehörte, das ist gut dokumentiert, zu den Opfern des Wahnsinns. Der Vater, einst Revolutionskamerad von Mao, wurde mehrfach durch die Straßen getrieben und verprügelt. Eine Halbschwester in den Selbstmord getrieben. Xi Jinping selbst von Rotgardisten als Abkömmling der korrupten Parteielite auf die Bühne gezerrt, öffentlich von der eigenen Mutter denunziert und später für Jahre aufs Land geschickt. Er hätte allen Grund, Mao zu zürnen. Und doch hält er ihn hoch als Schutzpatron der Partei und des Landes. Nein, Xi ist kein Maoist, und der Geist der Anarchie, der den ewigen Revolutionär Mao aufblühen ließ, ist ihm ein Graus. Aber kein Parteiführer vor Xi hat so viele rhetorische Anleihen bei Mao genommen. Und keiner bediente sich so ungeniert bei Instrumenten und Methoden, die Mao perfektioniert hatte: Xi brachte das aus der Kulturrevolution bekannte Instrument des öffentlichen Prangers für Andersdenkende zurück, samt gestammelter Reue und Selbstkritik – in weit potenterer Form: Damals war die Bühne ein öffentlicher Platz, eine Straße, heute ist es der Staatssender CCTV, so wohnen heute Hunderte Millionen den Demütigungen bei. Zuletzt belebte die Partei das Spitzelsystem an Schulen und Universitäten wieder: Die Denunziation von Kollegen wird wieder belohnt in China.

So wittern seit einiger Zeit die Neo-Maoisten Morgenluft, jene Unverbesserlichen am linken Rand der KP, welche die gute alte Zeit beschwören. War es nicht die Zeit, in der alle noch sauber und rein waren – und gleich vor allem? In der die Partei noch nicht von Korruption zerfressen, und China noch nicht eines der ungleichsten Länder der Welt war? Manche besitzen gar den Nerv, die Kulturrevolution zu feiern, wie jene Gruppe von Linken, die diese Woche in Xi’an bitter die Reform- und Öffnungspolitik der letzten 30 Jahre beklagten, welche China wieder „zu einem Abenteuerspielplatz für Imperialismus und Kapitalismus“ gemacht habe. Auf der anderen Seite aber gibt es auch die Menschen, die ihre Schuld drückt, die den Landsleuten, den Jungen vor allem, das Erlittene zurufen wollen, und die entsetzt mit ansehen, wie alte, längst begraben geglaubte Gespenster wieder ihre Köpfe erheben, wie einige wieder Mao vergöttern und zur Hatz auf Andersdenkende blasen.

Menschen wie Zhang Hongbing sind das, ein Rechtsanwalt in Anhui, der als 16-Jähriger seine Mutter dem Henker auslieferte, weil sie beim Abendessen Mao kritisiert hatte. „Die Geschichte zu vergessen ist Verrat“, sagte er der SZ einmal. Er ist selbst Parteimitglied, aber er attackiert das Erziehungssystem: „Warum verstehen die Söhne und Töchter des chinesischen Volkes so wenig, warum verwandeln sie sich immer wieder in Wolfskinder?“ sagte Zhang. „Weil die Partei die Gehirne wäscht. Weil sie sich Untertanen heranzieht, Gehorsame, Sklaven.“ Menschen wie die vier alten Damen, die der SZ 2014 erzählt hatten, wie sie als Rotgardistinnen einst die Folter und den Mord an ihrer Schuldirektorin erlebt hatten. „Es ist unsere Pflicht zu sprechen“, sagte die Jüngste, heute Juraprofessorin. „Die Jungen wissen nichts über diese Zeit. Wir müssen uns der Geschichte stellen. Wir müssen nachdenken, darüber, wie wir uns in blinde Fanatiker verwandeln konnten, nachdenken über das System. Sonst kann sich ähnlich Schreckliches wiederholen.“ Menschen wie die Bloggerin Yu Xiangzhen, die als über 60-Jährige beschlossen hat, das damals Erlebte aufzuschreiben. „Damit ich das nicht mit ins Grab nehme.“ Menschen wie Yu Youjin, einst Bürgermeister von Shenzhen, der im Ruhestand nun noch einmal als Professor vor Studenten tritt, und in seiner ersten Vorlesung die Kulturrevolution anging.

Sie sind einsame Kämpfer. Die Parteipresse schweigt sie gemeinhin tot, und wenn die Gesellschaft sie nicht ignoriert, dann werden sie oft angefeindet: im Netz, von den eigenen Klassenkameraden. Aber etwas treibt sie. Das Erlittene. Die Schuld. Eine Ahnung. „Der Geist der Kulturrevolution, er ist noch unter uns“, sagt Zhang Hongbing. „Der Boden ist noch fruchtbar“, sagt Professor Yu. Und es ist das erzwungene Vergessen, das ihn nährt.

Ausblick

Die Führung der KP tut bis Heute Vieles, um das Vergessen zu ermöglichen. Die Partei fürchtet die Auseinandersetzung mit den Schrecken der Vergangenheit. Sie fürchtet sich vor sich selbst und dem Volk. Wahrscheinlich glaubt sie, durch Kritik die Macht zu verlieren. Die Furcht sitzt tief. Sie ist eine Folge des nicht bearbeiteten Traumas der Kulturrevolution. Traumatisierte fürchten Flash Backs, sie vermeiden Situationen, die alte Ängste, alte Muster triggern könnten.

Das Perteiblatt Global Times erklärt die offizielle Linie so: „Reflexion und Diskussion, wie manche sich das wünschten“ würden den „politischen Konsens“ in Gefahr bringen und könnten „eine Turbulenz der Ideen“ auslösen (SZ vom 9.Mai 2016, S. 1). Also Deckel drauf, lieber nicht hinschauen.IMG_2536

Die Kulturrevolution, die doch den MUT zur permanenten Auseinandersetzung begründen sollte, fraß am Schluss nicht nur ihre Akteure, sondern auch Zuversicht und Hoffnung. Sie hinterließ, in einer dialektischen Wendung, vor allem Furcht. Die Furcht vor der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Furcht vor einer Auseinandersetzungen, die das Land erneut ins Chaos stürzen könnte.

2012, das erste mal in China, notiere ich in mein Tagebuch: Immer ist sie im Untergrund präsent, aber nur manchmal, am Rande, berühren wir sie direkt. Die Kulturrevolution. Dann werden die Augen der chinesischen Kollegen dunkel, die Stimmen senken sich. Die Scham über den Wahnsinn, die Grausamkeiten, die Exzesse, steigt auf, wie Morgennebel. Mit ihr das nackte Entsetzen, kalt und ernst, aber fest verpackt. Das seien schlimme Zeiten gewesen sagen sie, verrückt….

Ohne Öffnung, ohne Auseinandersetzung, bleibt das Erschrecken eingegraben und wühlt im Untergrund. Das Erschrecken über sich selbst und die Anderen: die entfesselten Grausamkeiten und brutalen Demütigungen ohne jeden Sinn und Verstand, Gefühle der Schuld und der Scham darüber, was möglich ist, wenn eine gewissenlose Propaganda unsere Gefühle missbraucht und zu Taten treibt, in denen wir uns selbst – aus dem Gewaltrausch erwacht – nicht wiedererkennen. Ein kollektives Trauma, das die Deutschen gut kennen.

50 Jahre nach dem Beginn der Kulturrevolution – wäre das nicht ein guter Zeitpunkt, auch offiziell behutsam die Bearbeitung des kollektiven Traumas anzugehen? Künstler weisen den Weg. Die Menschen sind bereit dazu, auch wenn es schmerzt. Nur wer sich den Schrecken der Vergangenheit stellt und sie versteht, kann eine bessere Zukunft gewinnen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Menschen in China sind nicht nur mit einem Grad von Druck, Widersprüchen, Geschwindigkeit und Komplexität konfrontiert, den Europäer schwer nachvollziehen und begreifen können. Sie stehen auch vor einem echten Dilemma.

Wie sagte es Mao am Beginn der „großen proletarischen Kulturrevolution“:  Mit Chaos auf Erden erreicht man große Ordnung im Land! Die gegenwärtige große Ordnung ging ohne einen Prozess der politischen Kritik – die wurde am Tiananmen 1989 niederkartätscht – direkt aus der Kulturrevolution hervor. Eine Herrschaftsform ohne unabhängige Justiz und Presse, beherrscht und durchzogen von Korruption, Nepotismus und Willkür, zusammengehalten von der Zensur und einem mächtigen Sicherheitsapparat.

Es ist diese große Ordnung, die von der neuen Führung unter Parteichef Xi Jinping als „harmonische Gesellschaft mit positiver Energie“ propagiert und eingefordert wird. In dieser rückwärtsgewannten, konfuzianischen Ordnung (Harmonie ist Ordnung, Ordnung ist Harmonie) gibt es kaum Platz für ein öffentliches, kritisches Erinnern. Störung der Ordnung! Turbulenzen unerwünscht! Furcht isst Mut auf.

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So gesehen schließt sich der Kreis auf tragische, fast absurde Weise. Die Idee der permanenten Kritik bringt, in der konkret praktizierten kulturrevolutionären Form,
eine im Ritual erstarrte konfuzianische Ordnung neuen Typs hervor. Die Geschichte schlägt ironische, zuweilen zynische Volten.

Die Menschen spüren die Erstarrung dieser Ordnung, das Lähmende in der atemberaubenden ökonomischen Turbo-Entwicklung, den Stillstand des Politischen.  Intuitiv „wissen“ sie – bei Hegel, Adorno und allen chinesischen Dialektikern – um den grandiosen und fatalen Irrtum. Auf die Dauer kann das nicht gut gehen. Chaos und Ordnung stehen nicht gegeneinander, sie wirken in allen Prozessen des Lebendigen zusammen, gehen auseinander hervor. Ruhe und Unruhe, Harmonien und Disharmonien bestimmen den Gang der Zivilisation und unser Zusammenleben, solange wir denken können.

Wer den Stillstand einer bestehenden Ordnung predigt wird den Sturm der Disharmonie ernten. Wer Harmonie will, darf sich vor Auseinandersetzungen, vor Turbulenzen, nicht fürchten. Andererseits, niemand wünscht sich eine erneute Kulturrevolution! Ein Dilemma, das vielleicht nur Chinesen, die Meister der Ambiguitätstolleranz, lösen können. Die Welt darf gespannt sein auf Lösungen, die neue Generationen finden werden.

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P.S. Lesson learned?!

Radikale Gesellschaftliche Utopien, die aufs Absolute zielen (Paradies auf Erden) sind brandgefährlich.

Die Wahl der Mittel bestimmt das Ergebnis.

Wer zur Durchsetzung von Zielen (seine) Werte missachtet sät Misstrauen und erntet    Furcht.

Wer bei der Durchsetzung von Zielen (seine) Werte achtet, gewinnt Vertrauen und erntet Zuversicht.

„Erst wenn ein System lernt, aus der Geschichte zu lernen, wird es zukunftsfähig. Den Grad der Geschichtlichkeit in einem System kann man auch beschreiben als das Verhältnis von Verdrängtem zu Durchgearbeitetem: das Durchgearbeitete drängt zu Verwandlungen, zu Spiralen – etwas, das trägt und federt-, die Verdrängung führt zu Wiederholungen, zu konzentrischen Kreisen – etwas, das einengt und abstumpft(Theweleit, 1990, S. 14).“ (Bleckwedel. 2008, S. 53)

Zeitbezug

Viktor Frankl über Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit

Veröffentlicht am Posted in Entwicklung, Ethik&Pragmatismus, Glück&Zufriedenheit, Leib&Seele

»Vor allem aber kann die Vergänglichkeit des Daseins dessen Sinn aus dem einfachen Grunde nicht Abbruch tun, weil in der Vergangenheit nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen ist. Im Vergangensein ist es also vor der Vergänglichkeit sogar bewahrt und gerettet. Was immer wir getan oder geschaffen, was immer wir erlebt und erfahren haben – wir haben es ins Vergangensein hineingerettet, und nichts und niemand kann es jemals wieder aus der Welt schaffen«

Viktor Frankl (2015, S. 9)

Prinzipien der Kooperation

Veröffentlicht am Posted in Kooperation

Prinzipien der Kooperation in den Formaten
Psychologische Beratung, Psychotherapie, Supervision

Acht Thesen zur Zusammenarbeit


Jan Bleckwedel

 

Leitgedanke: Soviel Klarheit wie nötig, soviel Kooperation wie möglich.

1.    Feldspezifische Besonderheiten der Kooperation beachten

Bei jeder Art der Zusammenarbeit sollen die jeweiligen Besonderheiten eines Arbeitsfeldesberücksichtigt werden. Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für Ausbildungs-Kooperationen im Feld psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision unterscheiden sich von Kooperationen in den Feldern Soziales, Medizin, Politik, Wirtschaft, Technik oder Kultur.

2.    Grundlagen und Voraussetzungen von Kooperationen explizit formulieren und transparent kommunizieren

Rahmenbedingungen, Grundlagen und Voraussetzungen für Ausbildungs-Kooperationen im Feld psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision sollen (a) explizit formuliert und (b) transparent kommuniziert werden.

3.    Orientierung an international gültigen fachlichen Standards und ethischen Leitlinien in Praxis und Lehre

Die Prinzipien der Zusammenarbeit in Ausbildung und Lehre sollen sich an den international gültigen fachlichen Standards und ethischen Leitlinien für die Beziehungsgestaltung in psychologischer Beratung, Psychotherapie und Supervision orientieren.

4.     Prinzipien, fachliche Standards und ethische Leitlinien professioneller Zusammenarbeit in den Formaten psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision

Es gelten die fachlichen Standards und ethischen Leitlinien der jeweiligen nationalen und internationalen Fachverbände und professionellen Vereinigungen[1].

5.    Transparente, informierte und reflektierte Zusammenarbeit in Praxis und Lehre

Rahmenbedingungen, Grundlagen, fachliche Standards und ethische Leitlinien sollen Klientensystemen gegenüber (in der passenden Form) benannt und offengelegt werden, um eine informierte Einwilligung zur Zusammenarbeit („Informed Consent“) zu ermöglichen. Die praktische Zusammenarbeit kann auf dieser Grundlage jederzeit kritisch von allen Partnern hinterfragt, reflektiert und gegebenenfalls (ohne Androhung von Repressalien oder Nachteilen) beendet werden.

6.    Die therapeutische Beziehungen soll als sicherer Ort geschützt werden – Wächterfunktion, Schutz des Raumes, Schutz vor Schädigungen.

Wer als Klient psychologische Beratung, Psychotherapie oder Supervision in Anspruch nimmt, kann, im Rahmen von gegenseitigem Respekt[2], von einem besonders gesicherten Vertrauensraum ausgehen. Gleichzeitig sind Hilfebeziehungen durch eine grundlegende Asymmetrie (Wissen, Macht) gekennzeichnet[3]. Wird der therapeutische Raum nicht ausreichend geschützt, oder treten (vermeidbare) Schädigungen (des Vertrauens) in diesem intersubjektiven Raum auf, kann es zu besonders gravierenden Folgeschäden kommen. Diejenigen, die einen solchen Vertrauensraum anbieten, tragen daher eine besondere Verantwortung für sichere Rahmenbedingungen, den Schutz des Raumes und den Schutz von Klienten. Mit anderen Worten: Die vornehmste Aufgabe von Institutionen und Berater*innen, Therapeut*innen, Supervisor*innen besteht darin, den therapeutischen Vertrauensraum zu sichern und zu schützen. Diese Wächterfunktion gilt selbstverständlich auch für Ausbilder*innen, unabhängig von Richtungen, Verfahren oder Methoden, Orten, politischen Systemen oder Kulturen. Zu den unverzichtbaren Rahmenbedingungen und Standards gehören:

  • Informierte, freiwillige und reflektierte Teilnahme[4]
  • Vertraulichkeit, Verschwiegenheit und Datenschutz
  • Freies Sprechen (eine Zensur findet nicht statt)
  • Die Würde und Autonomie von Klient*innen und Klientensystemen wird geachtet
  • Schutz vor Überwachung, Kontrolle oder Manipulation durch „Dritte“
  • Transparente Beziehungsgestaltung, Schutz vor mentaler Manipulation
  • Schutz vor dem Missbrauch von Macht in einer asymmetrischen Beziehung
  • Schutz vor körperlichen oder mentalen Übergriffen in der Arbeitsbeziehung
  • Rahmen aus gegenseitigem Respekt
  • Arbeitsbündnis auf der Grundlage von Vertrauen und gemeinsam geteilten Zielen
  • Weitgehender Schutz vor schwerwiegenden und nachhaltigen emotionalen Verletzungen und Schädigungen

All das gilt selbstverständlich auch für Ausbildungszusammenhänge in den Formaten psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision, die nicht nur den Modellfall eines geschützten Raumes darstellen, sondern in denen eben die fachlichen Standards und ethischen Regeln unterrichtet und vermittelt werden sollen, die unverzichtbar und hilfreich sind, wenn es darum geht, alle Akteure im Raum und den beschriebenen Vertrauensraum selbst (so weit als möglich) zu schützen[5].

7. Klarheit und Klärung: Direkte und offene Kommunikation über unterschiedliche Werte und Auffassungen

Es kommt vor, dass in der Zusammenarbeit unterschiedliche Auffassungen über grundlegende Werte, fachliche Standards und ethische Regeln auftauchen. Da diese die Grundlagen einer jeden Zusammenarbeit betreffen (den Kontext bilden, in dem alle Interaktionen und Kommunikationen ihre jeweilige Bedeutung erhalten), sollten solche Unterschiede thematisiert und (erstrangig) besprochen werden, mit dem Ziel, eine Klärung herbeizuführen, sowie über einen angemessenen Umgang mit unterschiedlichen Auffassungen zu beraten.

Bei unüberbrückbaren Auffassungen soll die Zusammenarbeit bis zu einer Klärung ausgesetzt werden. Kommt es zu keiner Einigung, soll die Zusammenarbeit beendet werden, da die Voraussetzungen für ein tragendes Arbeitsbündnis nicht (mehr) gegeben sind. Beendet werden soll die Zusammenarbeit auch dann, wenn in Dreieckskontrakten (zum Beispiel zwischen einer veranstaltenden Organisation, Teilnehmenden und Lehrenden) die Gefahr einer negativen Triangulierung besteht (etwa, wenn Teilnehmende durch einen Dissens in nicht zumutbare Loyalitätskonflikte geraten[6]).

8.    Gegenseitiger Respekt – Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Eine respektvolle Zusammenarbeit in den Formaten psychologische Beratung, Psychotherapie und Supervision basiert auf gleichberechtigten, weitgehend „herrschaftsfrei“ (Habermas) gestalteten Diskursen. Nur so ist ein offener, authentischer und ehrlicher Austausch auf Augenhöhe möglich, auch über kontroverse, unbewusst gemachte oder kollektiv tabuisierte Themen. Solchermaßen gestaltete Dialoge schaffen Vertrauen und ermöglichen gegenseitiges, transkulturelles Lernen jenseits von Dominanzstreben. Ein fachlicher Austausch zwischen den Welten über unterschiedliche Welten sollte offen und angstfrei geführt werden können.

Jan Bleckwedel im April 2021

Fußnoten

[1] Die entsprechenden Dokumente können jederzeit über das Internet aufgerufen und eingesehen werden.

[2]Vgl.  Bleckwedel, J. (2008). Systemische Therapie in Aktion. S. 39-55 u. S. 119ff

[3] Genauer in Bleckwedel, J. (2018). Supervision als praktizierte Ethik. Vortragsskript, Arbeitsblätter (unveröffentlicht).

[4] Der Umgang mit sogenannten Zwangskontexten oder Semi-Zwangskontexten stellt einen Spezialfall dar, der hier nicht weiter ausgeführt werden kann.

[5] Genauer dazu Bleckwedel, J., Skripten/PPTs zum Thema „Unterschiedliche Rollen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Therapeut/innen und Klient/innen im therapeutischen Prozess“, oder „Systemic Therapy as Applied Ethics, Principles and Standards in Therapy. Synopsis of Chinese and German Principles and Standards in Therapy”.

[6] Für das Format Supervision ausführlich beschrieben in: Bleckwedel, J. (2020). Einen Auftrag zurückgeben. Eine Geschichte von professioneller Courage und DemutThemenheft Gewagt: CourageZeitschrift Supervision 38 (4) 2020, S 28-32. Siehe auch: https://doi.org/10.30820/1431-7168-2020-4-28.

 

Fünf Milieufaktoren, die den Missbrauch von Macht und Gewalt begünstigen

Veröffentlicht am Posted in Macht&Missbrauch

Das Monströse ist immer menschengemacht. Ob es um Familienstrukturen, Kirchenstrukturen, Schulstrukturen, Organisationen oder staatliche Strukturen geht – alle Untersuchungen und Tatsachen zu diesem Thema verweisen auf fünf herausragende kulturübergreifende Milieufaktoren, die ein erheblich erhöhtes Risiko für den Missbrauch von Macht und Gewalt darstellen:

(A) Strikte und starre Hierarchien und damit verbundene Loyalitätsbindungen,

(B) Abschottung nach Außen und „Omerta“ (ein Verschwiegenheitsgebot und eine Verschwiegenheitsmentalität, die Täter schützt und Opfer einschüchtert),

(C) Großes Machtgefälle innerhalb der Hierarchien und „Kadavergehorsam“,

(D) Personale Überhöhung/ Idealisierung/(Geniekult) von systemimmanenten Personen und Funktionsträgern, die angeblich einen „besonderen“, privilegierten Zugang zu einem „höheren (geheimen) Wissen“, zu einer besonderen Weisheit, zu etwas Heiligem, oder einem übergeordneten Ideal besitzen (Götter, höhere Weisheiten, „der Wille des Volkes“, „der Mission des Proletariats…).

(E) Herabsetzung, Verachtung oder Dämonisierung aller „Andersartigen“ (Personen, Gemeinschaften, Völker, Weltanschauungen, Lebensstile, Gesellschaftsentwürfe). Wohl zu unterscheiden von Kritik!

Gemeinschaften oder Milieus, die sich auf die beschriebene Weise organisieren, bergen – egal in welcher Kultur, an welchem Ort oder zu welcher Zeit – ein erheblich erhöhtes Risiko für den Missbrauch von Macht und Gewalt (gewaltsame körperliche, mentale oder psychische Übergriffe) – sowohl gegenüber Einzelnen als auch gegenüber Gruppen oder ganzen Gemeinschaften oder Völkern

Kränkungs-Toleranz (Ludwig Marcuse)

Veröffentlicht am Posted in Freiheit&Begrenzung

Toleranz mag weder Zeigefinger noch Gesinnungsterror:

„Toleranz heißt: seine heiligen Gefühle nicht profanieren zu einer Bevormundung des Nebenmenschen. Man zweifelt doch sehr an der Heiligkeit von Gefühlen, die sich weniger in einem beseligenden Glauben äußern als im Hass gegen die Manifestationen der Ungläubigen“

(Ludwig Marcuse)

Plus: „Die Privilegien im Anstoßnehmen müssen endlich aufhören“