Kulturelle Zuversicht

Es gibt gute Gründe sich Sorgen zu machen, aber ebenso gute Gründe zuversichtlich zu bleiben.

Neben einer individuellen Zuversicht, die uns mal mehr mal weniger zur Verfügung steht, und einem Glauben, der uns vielleicht trägt, brauchen wir in unserer Zeit mehr denn je kulturelle Zuversicht: Die Zuversicht, dass wir uns gemeinsam als Spezies kulturell neu erfinden können, indem wir einen Lebensstil entwickeln, der menschenfreundlich und umgebungsfreundlich zugleich ist.

Bei aller Ungewissheit, eins ist klar, wir werden als Spezies kulturelle Zuversicht brauchen, um die Abenteuer, die vor uns liegen, zu bestehen und die Herausforderungen unserer Zeit aktiv anzugehen.

Mit diesem Thema beschäftigt sich ein Essay, der in der Zeitschrift Kontext abgedruckt ist (> zum ganzen Text). Hier ein Auszug:

„Systemische Zuversicht – Wie wir die Herausforderungen unserer Zeit annehmen und gemeinsam zuversichtlich bleiben könn(t)en
von Jan Bleckwedel

Gemeinsam unterwegs

Kein Vorhaben kann ohne Hoffnung gelingen
(Immanuel Kant)

In Henning Mankells Roman »Der Chronist der Winde« irrt der neunjährige Nelio, dessen Dorf niedergebrannt wurde, im Busch umher und trifft dabei auf den Zwerg Yabu Bata, der dem Jungen erlaubt, sich ihm anzuschließen. Irgendwann sagt der Zwerg: »Jetzt will ich auf deine Frage antworten, wohin ich unterwegs bin. Ich habe geträumt, dass ich mich auf eine Wanderung begeben und einen Pfad suchen soll, der mir das rechte Ziel weist.« »Was für einen Pfad?«, fragt der Junge. »Den Pfad, von dem ich geträumt habe. Der mich zum rechten Weg führen soll. Frag nicht so viel. Wir haben noch weit zu gehen.« »Woher weißt du das?« Yabu Bata sah ihn verwundert an, bevor er antwortete: »Ein Pfad, von dem man geträumt hat und der einen Menschen zum rechten Ziel führen soll, kann nicht in der Nähe liegen«, antwortete er schließlich, »was wichtig ist, ist immer schwer zu finden« (Mankell, 2002, S. 76). 

Was wir die Welt nennen ist die Gesamtheit der Ereignisse und Tatsachen in uns und um uns herum, die wir beobachten und über die wir sprechen[1]. Was nehmen wir auf unserem Weg, in unserer Zeit wahr, worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit, worüber sprechen wir, und schließlich: Mit welcher Einstellung, mit welcher Haltung, welcher Vorstellung und Logik sind wir unterwegs?

Eve of destruction[2] versus what a wonderful world[3] – ich glaube nicht, dass es in unserer Lage sinnvoll ist, beide Betrachtungsweisen gegeneinander auszuspielen. Irgendwo dazwischen liegt ein Pfad. Es gibt, wie Hans Rosling (2006) beispielhaft gezeigt hat, global und lokal viele positive Entwicklungen, die zuversichtlich stimmen können. Wir machen auch Fortschritte und darauf können wir aufbauen. Andererseits führt unsere Lebensweise, die Art, wie wir Beziehungen gestalten, zu einer globalen Erschöpfung, die sich auf allen Ebenen zeigt, nicht nur in der uns umgebende Natur, sondern ebenso kulturell, sozial und psychisch in einer Fülle von Symptomen. Alle Daten zusammen zeigen, dass wir ein ernstes Problem haben, wenn wir als Spezies weiterhin einer Logik der Expansion, Dominanz und Steigerung (Rosa, 2016, Bleckwedel, 2022) folgen und damit die Erde unbewohnbar machen. Wir werden unsere Lebensweise und die Logik, die alles bestimmt und durchdringt, grundlegend verändern müssen, wenn menschliches Leben auf unserem Planeten weiterhin möglich sein soll. 

 Betrachten wir die Evolution der menschlichen Spezies systemisch, dann ging es niemals nur um die Frage wer wird überleben, sondern von Beginn an immer auch um die Frage, wie können wir gemeinsam überleben. In diesem Kontext gewinnt die Formel vom „survival of the fittest“ (Darwin, 1871) eine ganz andere Bedeutung als die, die ihr im 20. Jahrhundert durch einen politisch motivierten Sozialdarwinismus und nationalen Chauvinismus zugewiesen wurde. Als Spezies fit zu sein bedeutet heute, zu erkennen, wie wir uns umgebungssensibel innerhalb bestimmter Grenzenentwickeln können, um gemeinsam unter den gegebenen natürlichen Bedingungen auf einem gesunden Planeten[4] zu überleben. Das bedeutet nichts weniger, als dass wir die Art und Weise, wie wir als Spezies Beziehungen gestalten, zu uns selbst, untereinander und zur weiteren Umgebung, grundlegend transformieren müssen.

Die menschliche Spezies entwickelte im Verlauf der Evolution fantastische Fähigkeiten, wir können nicht nur mentale Innenwelten und soziale Beziehungen kreativ gestalten, sondern auch kulturelle, natürliche und technische Umgebungen. Tatsächlich erschaffen wir die Entwicklungsräume, in denen wir uns bewegen, im kommunikativen Miteinander weitgehend selbst (im Rahmen natürlicher Gesetzmäßigkeiten). Doch in dem Moment, in dem alles möglich erscheint, im Anthropozän, in dem die Menschheit Göttern gleich (Harari, 2019) die Rhythmen und Kreisläufe des Lebens auf der Erde bestimmt, zeigt sich ebenso deutlich die dunkle Seite des schöpferischen Potenzials: Die enorme zerstörerische Kraft, die in der permanenten Ausdehnung, Eroberung und Ausschöpfung aller Möglichkeiten steckt, und die sich nun nicht mehr nur allein gegen andere Menschen oder Lebewesen richtet, sondern die Existenz der Spezies und der Biosphäre bedroht. 

Systemisch zuversichtlich zu bleiben, erfordert zunächst zu verstehen, in was für einer Lage wir uns befinden und wie wir dort hingekommen sind, um aus diesem Verstehen heraus nachhaltige Lösungen für die Zukunft zu entwickeln. 

Ungewissheitslage und Orientierungs-Modus 

 Gewissheit bleibt, wie Siri Hustvedt (2018) schreibt, immer eine Illusion, und doch steigt der Grad an Ungewissheit, und damit das „Unbehagen in der Kultur“ (Freud, 1930), gegenwärtig auf ein schwer erträgliches Maß. Historisch gesehen kennzeichnen die Turbulenzen fern vom Gleichgewicht, die wir auf allen Ebenen immer schneller getaktet erleben, den Übergang in ein Zeitalter des globalen Umbruchs, den die Menschheit in dieser Dimension noch nicht erlebt hat. Wir beobachten und erleben nicht nur menschengemachte Erderwärmung, Umeltverwüstung, Artensterben und die Eskalation von Gewalt und Unvernunft.  Die Krise der Ressourcenpflege, die Krise der gerechten Verteilung von Gütern und Lebenschancen, die Krise demokratischer Beteiligung, die Krise der Lebensweise ist nicht zuletzt eine Krise der Sinnschöpfung und der utopischen Vorstellungskraft. Die »großen Erzählungen« des 19ten und 20ten Jahrhunderts erwiesen sich im Praxistest als fatale Irrtümer und wir befinden uns auf einer Odyssee ins Ungewisse. Niemand kann heute sagen, wohin der Wandel führen wird: Die Keime des Neuen sind schon da, aber ob und wie sie sich entfalten werden, in welche Richtung es tatsächlich geht, welche neuen Ordnungen spontan entstehen werden, können wir unmöglich wissen. 

 An Wissen, Zukunftsentwürfen, Lösungsideen und guten Beispielen mangelt es nicht [5], nur kann eben heute niemand vorhersagen, wie sich die große Transformation (Polanyi, 1957, Göpel, 2020), von der nun überall die Rede ist, genau vollziehen, welche Richtung die Menschheit schließlich einschlagen wird. Auf jeden Fall sollten wir uns auf wilde Sprünge, seltsame Loops und herbe Rückschläge einstellen und akzeptieren, dass wir von nun an langfristig in einen Orientierungs-Modus (Stegmaier, 2008, 2020) eintreten, in dem wir nicht nur auf Sicht fahren und im Zustand von Ungewissheit pragmatisch Entscheidungen treffen (müssen), sondern immer auch wieder Innehalten sollten, um uns zu fragen, woran wir uns (eigentlich) orientieren wollen und wohin es gehen soll.   

Wandlungsfähigkeit und Beharrungsvermögen mehr: 


[1]  Vgl. Wittgenstein (1963), Tractatus, S. 9.

[2]  Barry McGuire, Eve of destruction, Text von P.F. Sloan (1965).

[3]  Louis Armstrong (1968), What a wonderful world.

[4] Vgl. Planetary Health: https://planetary-health-academy.de

[5] Vgl. u.a. Weizsäcker und Wijkman (2017), Rotthaus (2021), Jugendrat Generationengerechtigkeit (2019), SZ Magazin (2021).