Transkulturelle Erfahrung in China

Der Respekt vor dem Vielvölkerstaat China und die Würdigung seiner Geschichte ist das eine – das andere ist die kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Politik Chinas auf der Grundlage  europäischer Werte. „Einander als Angehörige verschiedener Kulturen zu verstehen, heißt.. wechselseitig zu verstehen, was uns trennt, und die jeweilige Andersartigkeit zu akzeptieren“ schreibt Umberto Eco (2020, S. 74). Das kann nur auf der Basis gegenseitigen Respekts gelingen. 

Zwischen 2012 und 2018 unterrichteten wir, meine Frau Eva und ich, im Rahmen der DCAP und als Teil eines deutsch-chinesischen  Trainerteams systemische Familientherapie an der Tongji Universität in Shanghai und Paartherapie an der Peking Universität. Eine beglückende transkulturelle Erfahrung, die uns im Sinne einer reziproken Irritation und Ethologie trägt und begleitet. 

Wir begegneten aufgeschlossenen chinesischen Kolleg:innen voller Hoffnung und Neugier, ein fruchtbarer Austausch auf Augenhöhe, mit viel Spass und intellektuellem Gewinn.  Auf diese Weise kann das „Fremde“ für den Blick auf sich selbst fruchtbar werden. Inhaltlich gab es in dieser Zeit keinerlei Beschränkungen.

Wir mochten beide das Unterrichten in China sehr, und so hätte es weiter gehen können. Gleichzeitig veränderten sich die politischen Rahmenbedingungen radikal. Der Machtantritt von XI beendete systematisch, Schritt für Schritt die Ära der pragmatischen Öffnung. Unter XI’s Führung restaurierte die KP ihre Macht und eine neue Ära des ideologischen Primats wurde eingeleitet, wie wir sie aus den Zeiten Maos kennen. Seither entwickelt sich das chinesische Regime von einem autoritären zu einem totalitären Regime mit nationalsozialistischem Gestus und imperialem, hegemonialem Anspruch –   wirtschaftlich mächtig, digital vorwärtsgetrieben und überwacht, im Kern jedoch ideologisch ausgerichtet und gesteuert (mehr dazu: Interview auf 3-sat) . 

Menschenrechte und Freiheitsrechte werden massiv eingeschränkt und verletzt, Kritiker eingeschüchtert, „westliche Ideologien“ aktiv  bekämpft. Personenkult, Zensur und Propaganda sind allgegenwärtig. Viele Chinesen sehnen sich nach Freiheit und träumen davon, das Land zu verlassen. Die KP baute die muslimische Region Xinjiang zu einem „Lagerstaat kulturrevolutionärer Prägung“ aus. Der pulsierenden Metropole Hongkong brach das Regime entgegen aller Abmachungen das demokratische Rückgrat. Hunderttausende flohen. Taiwan soll heimgeholt werden ins Reich der Mitte. Kritische europäische Intellektuelle und Parlamentarier werden bespitzelt und unverhohlen bedroht. Ausländer in China können nach der neuen Gesetzgebung jederzeit im Gefängnis landen. Das eigene Gesellschaftssystem wird propagandistisch gefeiert während  demokratische Werte (Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, Zivilgesellschaft) offiziell als „verworrener Wahnsinn“ geschmäht werden. Das XI-Regime will eine neue autoritäre Weltordnung unter Chinas Führung – ohne  individuelle Freiheiten und Rechte, ohne universell gültige Regeln und Werte.    

Dieser veränderte Kontext, der ohne Realitätsverlust nicht verdrängt werden kann, schränkt den Möglichkeitsraum für Kooperationen im Feld von Beratung und Psychotherapie empfindlich ein (siehe dazu: Zum Schutz des therapeutischen Raumes – Schweigepflicht und Datenschutz in Europa und China).

im Jahr 2019, noch vor der Corona Pandemie, entschied ich mich daher, das Projekt Paartherapie in China nicht weiter zu verfolgen. (mehr dazu: Psychotherapie unterrichten in China – achte Thesen zur Kooperation). Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen.

Es bleibt die transkulturelle Erfahrung,  der intensive, menschliche und beglückende Austausch mit den chinesischen Kolleg:innen. Eine wertvolle Inspiration – für sich genommen zuversichtlich stimmend, im aktuellen politischen Kontext betrachtet beunruhigend. Der von China ausgelöste und aggressiv betriebene „Wettbewerb der Systeme“ zwingt alle Beteiligten, sich zu positionieren. Schweigen ist keine gute Option. Ich bevorzuge in dieser Hinsicht einen klaren Standpunkt.

 Einen Eindruck der wertvollen transkulturellen Erfahrung in China vermittelt der Bericht von Inge Liebel-Fryszer: 2013_Liebel-Fryszer_China