Resilienz und Effizienz ausbalancieren – Das „Lebensfenster“- Ein Meta-Modell für nachhaltige Entwicklung

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Resilienz und Effizienz ausbalancieren
Das „Lebensfenster“ – Ein Meta-Modell für nachhaltige Entwicklung

Von Jan Bleckwedel

Rahmung

Die menschengemachte Erderwärmung bedroht unsere Existenz. Die physischen Schäden sind schon heute immens und der sich verdunkelnde Horizont beeinträchtigt die Lebensfreude. Die Krisensymptome einer auf Expansion basierenden Zivilisation zeigen eindrücklich die Grenzen ungezügelten Wachstums[i]. Machen wir einfach so weiter, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen. Auch in Beratung und Therapie scheint es wenig sinnvoll, einseitig auf individuelles Wachstum oder expansive Lösungen zu setzen, während gleichzeitig
immer deutlicher wird, dass eineUMGEBUNGSBLINDEExpansion – die ungehemmte Ausdehnung menschlicher Möglichkeitsräume – unser Überleben als Spezies gefährdet.

Es ist Zeit, etwas Neues, und vielleicht ganz Altes, zu beginnen. Die Frage lautet: Wie gestalten wir, Beraterinnen und Therapeutinnen, die Beziehungen zu uns selbst, untereinander, zu unseren Klient*innen und zur natürlichen Umgebung so, dass Entwicklungsräume und Entwicklungschancen für zukünftige Generationen erhalten bleiben? Das ist keine geringe Herausforderung, aber es liegt eine Chance darin. Wir könnten die Fähigkeit entwickeln, menschliche Entwicklungsräume kontextsensibel & ressourcenorientiert zu pflegen und zu gestalten (also in enger Abstimmung mit allen nährenden inneren und äußeren Umgebungen).

Im Rahmen einer öko-systemischen Perspektive (Bateson, 1981, Bleckwedel, 2008, S, 295) plädiere ich für einen systemisch entwicklungsorientierten Ansatz (Bleckwedel, 2021). In einer entwicklungsorientierten Perspektive gehen Konflikte und Lösungen permanent auseinander hervor[ii]. Eine systemisch entwicklungsorientierte Praxis kombiniert daher ganz selbstverständlich Konfliktbearbeitung undLösungsentwicklung, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Nachhaltige Lösungen produzieren möglichst wenig schädigende neue Probleme und Konflikte. Die Frage lautet dann: Wie können wir gemeinsam mit unseren Klient*innen Probleme, Konflikte oder Störungen in nachhaltige Lösungen transferieren?

Alle bio-psychischen und sozio-kulturellen Systeme beziehen sich in ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung auf sich selbst, auf ihre Umgebungen und auf vorangegangene Entwicklungen. Wir arbeiten mit bezogenen und geschichtlichen Systemen, daher lebt unsere Praxis vom Bezogensein und vom „Respekt für Geschichtlichkeit“ (Bleckwedel, 2008, S. 52-53), der sich im Verstehen von Geschichtlichkeit ausdrückt. Wie und unter welchen Bedingungen haben sich die Systeme, mit denen wir arbeiten, entwickelt? Wer Entwicklung besser verstehen will tut gut daran, sich etwas näher mit den Entwicklungsgesetzmäßigkeiten lebender Systeme zu beschäftigen.

In diesem Kontext wird nun interessant, wie lebende Systeme Resilienz und Effizienz ausbalancieren, um Entwicklung und Überleben zu sichern.

1. Das Lebensfenster
(Window of Viability): Ein theoretisches Meta-Modell für nachhaltige Entwicklungen

Leben ist Wandel durch Aktivität. In einer entwicklungsorientierten Perspektive geht es ganz wesentlich darum, für eine ausgewogene Balance von Aktivitäten zu sorgen, die für Resilienz einerseits und für Effizienz andererseits sorgen. Für das Verhältnis von resilienten und effizenten Aktivitäten gibt es, will ein System überleben und sich weiterentwickeln, eine goldene Regel. Die Grafik stellt den beschriebenen Zusammenhang in einer Kurve dar. Das Lebensfenster (Window of Viability, Lietaers, 2010) kennzeichnet den Bereich, in dem lebende Systeme nachhaltig überlebensfähig bleiben können:

 

Quelle Bernard Lietaer, Robert E. Ulanowicz, Sally J. Gerner, Nadia McLaren 

1.1. Zwei Aktivitäten, die Entwicklung nachhaltig sichern

Wir können zwei Aktivitäten unterscheiden, durch die lebende Systeme – zum Beispiel einzelne Zellen, Gehirne, Lebewesen, menschliche Individuen oder soziale Gemeinschaften –  Entwicklung und Überleben nachhaltig sichern (können):

A) Resilienz fördernde Aktivitäten

> Aufbau und Pflege paralleler Strukturen/Kapazitäten/Potenziale, die nicht unmittelbar genutzt werden und als „Backup“ dienen, um bei (unvorhergesehenen) Veränderungen mit Entwicklungsaktivitäten reagieren zu können.

> Aktivitäten, die Fehlerfreundlichkeit (vgl. Prinzip Fehlerfreundlichkeit, Bleckwedel 2008, S 74-80) herstellen, d.h. Aktivitäten die für Redundanz, Grenzziehung und Austausch gleichermaßen sorgen, um die Entfaltung von Vielfalt (Diversity) zu sichern.

 Aufbau und Pflege von Querverbindungen und Quervernetzungen (Interconnections), die, weil zunächst nicht unbedingt nötig und genutzt, momentan „überflüssig“ erscheinen.

B) Effizienz fördernde Aktivitäten

Damit sind alle Aktivitäten gemeint, die zu einer vollen Ausnutzung und Auslastung aller zur Verfügung stehenden Strukturen/Kapazitäten/Potenziale führen, um stringent und stromlinienförmigen (streamlined) bestimmte Ziele zu  verfolgen und zu erreichen.

1.2. Zum optimalen Verhältnis von Resilienz fördernden und Effizienz fördernden Aktivitäten

Kurzfristig kann, je nach Situation, die eine oder die andere Aktivität „hochgefahren“ werden. Langfristig gesehen streben lebende Systeme aber stets nach einem optimalen, ausgewogenen Verhältnis beider Aktivitäten. Nimmt man die empirische Forschung (Ergebnisse aus Biologie, Neurobiologie, Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Soziologie und Ökonomie) ernst, dann sind lebende Systeme dann nachhaltig lebens- und überlebensfähig, wenn sie in etwa 2/3 ihrer Aktivitäten für Resilienz und 1/3 für Effizienz aufwenden.

Ein gutes Beispiel dafür sind die Aktivitäten unseres Gehirns. Aber was für biologische Systeme gilt, gilt ebenso für psychische, soziale und kulturelle Systeme. Mit etwas Überlegung findet jeder, findet jede leicht zahlreiche Beispiele. Menschliche Systeme – Personen, Paare, Familien, Gruppen, Teams, Gemeinschaften – brennen aus („burn out“), wenn sie nicht ausreichend regenerieren. Das gilt übrigens besonders für Leistungssportler (Graumann, 2019). Guter Schlaf fördert die Leistungsfähigkeit.

1.3. Eine einfache Überlebensformel

Es ergibt sich eine einfache Überlebensformel: Aktivitäten für Resilienz sind, mittel- und langfristig, etwa doppelt so wichtig wie Aktivitäten für Effizienz. Der goldene Schnitt, das optimale Verhältnis für lebende Systeme lautet:

2/3 Resilienz förderne Aktivitäten
1/3 Effizienz fördernde Aktivitäten

1.4. Wenn Resilienz zum Problem wird

Systeme, die zu sehr nach Resilienz streben (zu stark auf Aktivitäten zum Erhalt von Belastbarkeit setzen), verlieren ihre Durchsetzungsfähig. Sie werden irgendwann an den Rand gedrängt und/oder sterben ab.

1.5. Wenn Effizienz zum Problem wird

Systeme, die zu sehr nach Effizienz streben, verlieren ihre Widerstandsfähigkeit. In kritischen Situationen (wenn die Umgebungsbedingungen sich abrupt und extrem ändern) verlieren sie ihre Stabilität und kollabieren, oder sie implodieren in dem überhitzten Feuerwerk, das sie selbst erzeugen.

1.6. Beispiel Finanzkrise 2008

Das internationale Finanzsystem, sagen die Autoren, von denen das Konzept stammt, operierte seit den 80ger Jahren des vorherigen Jahrhunderts, vorangetrieben durch einen radikalen Neoliberalismus, weit außerhalb des Vitalitätsfensters: Neue, von der realen Wirtschaft abgekoppelte „Finanzinstrumente“ und eine ausgeprägte Monokultur der Geldschöpfung (wenige große, global agierende Finanzakteure wie Banken und Hedge-Fonds) führten zu einer hohen Effizienz des Systems. Als die Immobilienblase platze erwies sich das System als hochgradig instabil, und wäre, ohne massive, systemfremde, staatliche Stützung, komplett zusammengebrochen. Wer mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Verluste nach immer mehr Effizienz strebt, riskiert den Zusammenbruch. Dieses Phänomen lässt sich mit dem beschriebenen theoretischen Modell sehr gut erklären.

1.7. Beispiel Corona-Krise 2020

In den letzten Dekaden wurden nicht nur Gesundheitssysteme weltweit auf Effizienz ausgerichtet. Beim Ausbruch der weltweiten Pandemie zeigt sich nun, wie Gesundheits- Bildungs- und Sozialsysteme sehr schnell an den Rand ihrer Belastbarkeit kommen und teilweise kollabieren. Die Krise bringt nüchtern an den Tag, was stimmt und was nicht stimmt. Zu wenig Resilienz. Die genannten Systeme wurden systematisch auf Effizienz getrimmt und „kaputtgespart“ (wobei die Gewinne privatisiert und die Kosten vergesellschaftet werden).

Die Chance liegt jetzt in einer grundlegenden Korrektur des Denkens und Handelns. Fazit: Mehr Resilienz wagen – weniger Effizienz anstreben.

2. Ausblick 

Das Vitalitätsfenster liefert als Meta-Modell wertvolle Hinweise für alle, die Entwicklung gestalten wollen. Das gilt für einzelne Personen genauso wie für soziale, kulturelle oder politische Systeme. Mit Blick auf die Veränderungen durch den Klimawandel werden wir nicht darum herumkommen, unseren Lebensstil und die Art unseres Zusammenlebens grundlegend zu verändern. Es wäre tragisch, wenn wir auf dem Weg unserer weiteren Transformation vergessen würden, woher wir kommen und was uns zu dem gemacht hat, was wir sind. Die Beziehungen, die wir miteinander entwickeln und gestalten sind die Wurzeln und Quellen unserer Lebenslust und unserer Kreativität. Menschliches Beziehungsleben ist eine unerschöpfliche, erneuerbare, ökologisch unbedenkliche Ressource, die wir gestalten können.

Nicht zuletzt sind wir die Spezies, die über Erfindungsgeist und kulturelle Schöpferkraft verfügt. Wir können die Art und Weise, wie wir leben und zusammenleben wollen, so gestalten, dass wir die Umgebungen, von denen unser Leben abhängt, pflegen wie einen Garten.

Technikentwicklung allein wird es sicher nicht richten[iii]. Wie auch immer die Wege in die Zukunft aussehen mögen, wir haben die Chance und die Fähigkeit, die Steigerungs- und Expansionslogik[iv], mit der wir als Spezies schon so lange unterwegs sind und die alle Bereiche, von der Ökonomie bis zur Psyche, durchdringt und beherrscht, in etwas anderes zu transformieren[v].

Das aber wird keine Frage der technischen, sondern primär eine Frage der psycho-sozialen und politisch- kulturellen Innovation sein[vi].

Im Verlauf der Evolution erfanden Menschen immer komplexere Formen des Miteinanders, der Kooperation und kommunikativen Abstimmung – wir haben tatsächlich gelernt, unsere Beziehungen schöpferisch zu gestalten, zu uns selbst, untereinander und zur Umgebung. Wir erfinden und gestalten also die psychischen, sozialen und kulturellen Möglichkeitsräume, in denen wir uns bewegen und entwickeln, im kommunikativen und kooperativen Miteinander.  Diese Erkenntnis erschreckt und tröstet zugleich. Die Welt ist so, wie wir sie gemeinsam mit anderen hervorbringen, und ja, wir können sie gemeinsam neu erfinden und anders gestalten. Wir sind Teil eines größeren Entwicklungsraumes, der Biosphäre, und wir teilen diesen Entwicklungsraum mit anderen Lebewesen.

Literatur

Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bleckwedel, J. (2008). Systemische Therapie in Aktion. Kreative Methoden in der Arbeit mit Familien und Paaren. 4. Auflage. V&R, Göttingen.
Bleckwedel, J. (voraussichtlich 2021). Menschliche Beziehungsgestaltung. Entwurf einer systemischen Theorie des Zwischenmenschlichen. Eine entwicklungsorientierte Perspektive. V&R, Göttingen.
Graumann, L., Walter, U.N., Krapf F. (2019). Regeneration. Riva Verlag, München.
Lietaer, B., Ulanowicz, R.E., Gerner, S.J., McLaren, N. (2010). Is our Monetary Structur a Systemic Cause for Financial Instability. Evidence and Remedies from Nature.https://www.researchgate.net/publication/229039856_Is_our_monetary_structure_a_systemic_cause_for_financial_instability_Evidence_and_remedies_from_nature

[i]   Im Jahr 2000 prägte der niederländische Chemiker, Atmosphärenforscher und Nobelpreisträger (1995) Paul Crutzen gemeinsam mit Eugene Stoermer für unser Zeitalter die Bezeichnung Anthropozän. Damit ist eine neue geochronologischen Epoche gemeint, in der der Mensch zum alles dominierenden Einflussfaktor wird. Nimmt man die Daten und Fakten zur Kenntnis, dann spielt die Menschheit buchstäblich mit dem Feuer, indem sie durch ihre Lebensweise die fragilen Gleichgewichtsverhältnisse, die ein Überleben auf der Erde ermöglichen, unwiederbringlich aus der Balance bringt.

[ii] Probleme oder Konflikte werden gelöst, aber jede Lösung führt, wenn wir länger hinschauen, zu neuen Problemen, die wieder zu neuen Lösungen führen..

[iii]  Vgl. Paech (2012), Kapitel IV

[iv] Hartmut Rosa nennt dies die konstitutive Steigerungsorientierung der Moderne, die »als  struktureller Zwang eingeschrieben (ist) in die Institutionenlogig der kapitalistischen Ökonomie«, und ebenso in »die Funktionsweisen der Wissenschaft, der Massenmedien, des Rechts und der Politik« (Rosa, 2016, S. 78)

[v]  Vgl. Ernst Ulrich von Weizsäcker und Andreas Wijkman (2017). Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Vgl. auch Paech (2102). Befreiung vom Überfluss.

[vi] Vgl. u.a. Assmann, A. (2018). Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine hu­mane Gesellschaft. Zu den weniger bekannten Menschenpflichten:  https://www.interactioncouncil.org/sites/default/files/de_udhr%20ltr.pdf