Moralspektakel – Ein Buch über die neue Unduldsamkeit von Philipp Hübl

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Eine Rezension von Stefan Beher beschreibt, in meiner Welt treffend, Entwicklungen, die vielen Sorge bereiten. Nur— einfach ignorieren, das wird nicht so einfach. Die herausragende Rezension und das Buch selbst zeigen es ja. Neben der Beschreibung beschäftigt mich die Frage: woher kommt dieser Furor? Könnte es sein, dass auch postmodernes und systemisches Denken in der Entwicklung eine Rolle spielen?

Systemisches Denken war und ist für mich zutiefst erschütternd. Ein ökosystemisches Weltbild bedeutet in der Konsequenz, dass wir uns von tief verwurzelten Vorstellungen verabschieden müssen. Wenn wir die Tatsachen (Wittgenstein, Kybernetik zweiter Ordnung) anerkennen, dann gibt es keine absoluten Wahrheiten, die wir erkennen könnten – allenfalls Bezugspunkte in der Kommunikation über Ideenwelten und empirische Forschungsergebnisse, um uns über „Wahrheiten über Wahrheiten“ auszutauschen. Diese Idee erscheint zunächst leicht und befreiend, vielleicht haben wir darüber vergessen, wie kränkend und verunsichernd sie ist. Wer will, wer kann so leben, und woran sollen wir uns dann orientieren, in einer bedrohlichen Welt voller Ungewissheiten.

Könnte es sein, so frage ich mich, dass der neofortschrittliche moralische Furor – der dem moralischen Wüten aller Zeiten so sehr ähnelt, und von dem wir „Golden Agers“ irrtümlich annahmen, er sei vorüber,– diese Lücke füllt? Wurde vielleicht mit dem Streben nach absoluter Wahrheit das Streben nach gemeinsamen geteilten Wahrheiten gleich mit entsorgt? Und wird nun die daraus entstehende geistige und emotionale Leere mit identitären Ideologien und absolutistischer Moral gefüllt? Wo Tabula rasa gemacht wurde blühen postfaktische, subjektivistische Ideologien. Das würde, zumindest ein wenig, erklären, warum postmodern geprägte intellektuelle Milieus besonders von der neuen Kultur der Unduldsamkeit betroffen sind. In den Schatten der Postmoderne marschiert die Gegenaufklärung. Sollen wir lachen oder weinen? 

Die Sehnsucht nach Orientierung in einer zerfallenden Welt wird stärker. Dialektik der Aufklärung. Wer, wie Gregory Bateson, auf die Lücken im Geflecht von Geist und Natur hinweist, muss nicht nur jeden Tag aufs Neue um seine eigene erkenntnistheoretische Bescheidenheit kämpfen, sondern auch mit der Wut rechnen, die mit dem Verlust absoluter Bezugspunkte einhergeht.

Aufklärung, zumal die Aufklärung über sich selbst, ist verdammt anstrengend, bedeutet sie doch nichts weniger als den Versuch, immer wieder gemeinsam mit anderen nach sinnvollen Bezugspunkten zu suchen. Das wird, ich spreche da nur von mir selbst, nicht leichter, wenn einem seltsame bis absurde Gewissheiten entgegen geschleudert werden.

Lesen hilft: „Auch die Verbreitung der reinsten subjektiven Erkenntnis macht einem keine unbedingte Freude mehr, wenn man erst auf folgendes gekommen ist: dass alle Erkenntnis nur aus dem Streben entsteht, Beweisgründe für die eigene Art zu sammeln, dass alle Erkenntnis nur Mittel ist, das eigene Wesen herauszuarbeiten, gegen die Welt zu behaupten“ (Feuchtwanger, 1935/1983, S. 417, zit. nach Bleckwedel, 2008. S. 97). Mit diesem Problem sollte man rechnen und sich darauf einstellen, dass der unabschließbare Weg vorläufigen Erkennens ein verdammt hartes Geschäft ist.

Jan Bleckwedel, Bremen

Sinnlich erlebte Wirklichkeit

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Über Leben in Auschwitz (SZ.de vom 24. Januar 2020)

Ein bemerkenswerter Essay des Historikers Nikolaus Wachsmann über die Wirklichkeit des Lagerlebens, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Das ist auch theoretisch bemerkenswert: Die konkrete Beschreibung der sinnlich erlebten Erfahrung führt alle postmodernen Versuche, Wirklichkeiten im Ungefähren und Beliebigen aufzulösen, ad Absurdum. Sicher, wir können die Wirklichkeit nur subjektiv erfassen, daher es gibt viele „Wahrheiten“ und Interpretationen von Wirklichkeiten. Aber die konkreten Erzählungen all der Menschen, die Auschwitz erlebten, fügen sich zu einer Gesamtschau, zu einer Wirklichkeit der Tatsachen zusammen. Wir können Tatsachen (im Wittgensteinschen Sinn) leugnen oder uns mitfühlend einfühlen, aber wir können sie nicht auslöschen. Eine Theorie des Sozialen darf Menschen und ihre Emotionen nicht ausschließen. Eine Theorie des Zwischenmenschlichen sollte sowohl Menschen als handelnde Akteure zeigen als auch die Muster ihrer Kommunikationen und Beziehungen sichtbar machen. Vor allem muss sie uns in die Lage versetzen, unvoreingenommen und mitfühlend zu beobachten und zuzuhören, um sinnlich erlebte Wirklichkeiten aufzuheben und zu transformieren.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit in den Zeiten von Lüge und Fake

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Wie können wir uns heute auf gemeinsam geteilte Wahrheiten einigen?

Wahrheiten verbinden, sie halten uns im Innersten zusammen und verknüpfen uns mit Anderen. Die Wahrheit ist, es gibt nicht die eine, absolute Wahrheit, es gibt viele Wahrheiten. Schon immer, seitdem die Menschen Geschichten erfinden, existieren an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit unterschiedliche Erzählungen über die Wahrheit. Unterschiedliche Perspektiven, Wahrnehmungen und Weltanschauungen bringen unterschiedliche Erzählungen, Realitäten und Wahrheiten hervor. Die Wirklichkeit ist vielschichtig und mehrdimensional, und wir erfinden unsere Wahrheiten immer wieder neu im kommunikativen Austausch.

Wenn wir uns von einer absoluten Wahrheit, der einen großen Erzählung verabschieden, wie können wir dann mit unterschiedlichen Wahrheiten leben? Es ist eins, mit großem Hurra das Ende aller großen Erzählungen zu verkünden, und etwas ganz anderes, sich in der neuen multiversen Welt, in der wir uns wiederfinden, wenn wir uns von der einen Wahrheit verabschiedet haben, gut zu bewegen. Wie kann das gelingen? Haben wir die Göße der Herausforderung schon verstanden?

Zunächst einmal, die anderen müssen mitmachen, denn wenn andere auf ihren Wahrheiten als einzig gültiger Wahrheit bestehen, wird es unausweichlich zum Konflikt kommen, und wenn dieser Konflikt eskaliert, wird der Ruf nach der einen Wahrheit mit Sicherheit wieder überall lauter werden (auch unter denen, die vorher die Abschaffung aller Wahrheiten laut bejubelt haben). Wer das Land der vielen Wahrheiten betreten und dort friedlich leben will, müsste am Eingang das Streben nach Macht und Dominanz aufgeben, und wer wollte oder könnte das schon so einfach tun.

Spätestens jetzt kommt das Lügen und das Bemühen um Wahrhaftigkeit ins Spiel. Die Lüge, ob aus Not geboren oder strategisch als Kalkül eingesetzt, im Ergebnis zerstört das Lügen das Vertrauen der Menschen zueinander, es entzweit, zerreißt Seelen und zerstört soziale Systeme. Im Gegensatz dazu zeigt sich Wahrhaftigkeit in dem redlichen Bemühen, sich selbst und die anderen nicht zu belügen. Das wird schon auf der bewussten Ebene ziemlich schwer, um von der unbewussten Ebene gar nicht zu reden. Nur wenn wir uns gegenseitig Wahrhaftigkeit und Authentizität unterstellen, können wir die jeweils Anderen in ihrer Wahrheit respektieren. Aber Lüge und Fake news sind ein Teil der Wahrheit, die wir nicht wegleugnen können.

Das wissenschaftliche Streben nach Wahrheiten im Sinne von Erkenntnis (die sich allmählich, in kuriosen Schleifen ausdehnt, ohne zu einem Endpunkt zu kommen) wurde noch gar nicht erwähnt. Dieses Streben ist aber unverzichtbar, wenn wir zusammen in unterschiedlichen Wahrheiten leben und überleben wollen. Ist eine Wahrheit akzeptabel, die dumpf und blöde und aggressiv darauf besteht, dass es, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Klimawandel nicht gibt? Wahrheiten im Sinne von Erkenntnissen entstehen in der lebendigen, beharrlichen, manchmal harten und schmerzlichen Auseinandersetzung über unterschiedliche Wahrheiten.

Galilei, Darwin, Freud oder Einstein haben durch ihre bahnbrechenden Erkenntnisse nicht nur Welten erschüttert sondern Menschen gekränkt, und auch wir selbst kommen nicht weiter, wenn wir nur immer daran denken, dass sich alle in ihren Wahrheiten nur immer ausreichend bestätigt und wertgeschätzt fühlen. Im Namen des Strebens nach Erkenntnis müssen wir den Anderen die Kränkungen der Erkenntnis zumuten.

Wenn wir also in einer Welt der multiverse Wahrheiten gemeinsam nach Wahrheiten im Sinne von Erkenntnissen streben wollen, dann müssen wir lernen, uns warmherzig und gleichzeitig sachlich glasklar auseinanderzusetzen, ohne zu Feinden zu werden und den Anderen zu dämonisieren; Das hieße, wir müssten kränkungsfähiger werden, und zwar im doppelten Sinne: Wir sollten die Kränkungen, die in den Wahrheiten der Anderen liegen, aushalten können, und wir sollten dem Anderen die Kränkungen, die in unseren Wahrheiten für ihn (vielleicht) liegen, zumuten können. Es hieße aber auch, Leute, die anderen ihre Lügen oder absoluten Wahrheiten aufzwingen wollen, zu bekämpfen.

Mir scheint, wir sind von einer solchen politischen Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung und Kränkungsfähigkeit weit entfernt. Eine solche Kultur aber wäre notwendig, nicht nur um mit unterschiedlichen Wahrheiten angemessen umzugehen.

Individuelle und kollektive Wahrheiten entstehen und zerfallen, und doch brauchen Gemeinschaften offenbar gemeinsam geteilte Wahrheiten zum Überleben wie die Luft zum Atmen. Offensichtlich können wir nur kooperieren, wenn wir uns, zumindest vorübergehend, auf gemeinsam geteilte Wahrheiten einigen können. Flexible und kreative Kooperation ist aber genau das, was uns als Spezies überlebensfähig macht und auszeichnet. Gruppen oder Gemeinschaften, die sich nicht (mehr) über gemeinsam geteilte Wahrheiten verständigen und auf gemeinsam geteilte Realitäten beziehen(können), zerfallen. Im besten Fall gehen die Leute friedlich ihrer Wege, im schlimmsten Fall kommt es zum Krieg.

Der Zerfall kollektiver Wahrheiten bedroht auch die individuellen Wahrheiten. Der Einzelne braucht individuelle Wahrheiten, um nicht verrückt zu werden. Wem die eigene Wahrnehmung in unverbundene Stücke zerfällt, wer nicht mehr zwischen der Realität, die die anderen miteinander teilen, und seinen Fiktionen oder Obsessionen unterscheiden kann, wird wahnsinnig. Genauso Gemeinschaften, eine Gesellschaft, die nicht mehr angemessen zwischen verschiedenen Wahrheiten, zwischen Lüge und Wahrhaftigkeit, zwischen Fakes und Fiktionen unterscheiden kann, verfällt dem Wahn.

Der Zerfall von Wahrheiten erzeugt Angst. Die Angst äußert sich depressiv, in der Entwertung eigener und anderer Realitätswahrnehmungen, die Angst äußert sich regressiv, indem eigene oder andere Wahrheiten oder Identitäten verkürzt oder versimpelt werden, und sie äußert sich aggressiv, wenn andere Wahrheiten oder Identitäten wild und ungezügelt bekämpft werden, um die eigenen Wahrheiten oder Identitäten zu retten. In einem solchen gesellschaftlichen Erregungszustand – sensibel, leicht kränkbar, ungeduldig – befinden wir uns gerade. Wie finden wir da heraus?

Wie können wir uns auf gemeinsam geteilte Wahrheiten einigen? Diese Frage stellt sich in jeder historischen Epoche, für jede Generation neu. Die Postmoderne versuchte ja durch die Zertrümmerung absoluter, rigider Wahrheiten eine neue Form der Rationalität zu installieren, die unterschiedliche Wahrheiten nicht ausschließt und eine Vielfalt von Wahrheiten begrüßt (Identitäten, Lebensäußerungen, Lebensstile, Kulturen, Wirklichkeitskonstruktionen). Das war die „Wahrheit“ einer Generation, die mit den großen Erzählungen, die im 20ten Jahrhundert so viel Unheil angerichtet hatten, endlich Schluss machen wollte (eine notwendige Zertrümmerung). Tolerante Sensibilität für Unterschiede, Heterogenität und Pluralität und die Fähigkeit, gegensätzliche, unverbundene, ja unvereinbare Sprachstile und Lebensweisen gelassen hinzunehmen – das würde sich dann schon einstellen, so hoffte man, und es gibt dafür sicher viele gute Beispiele. Doch die Dynamik geht gegenwärtig in eine ganz andere Richtung. Plötzlich steigen die alten Gespenster in neuen Gewändern aus der Gruft, quicklebendig, als wäre nichts gewesen. Die Atmosphäre ist angefüllt mit einer seltsamen, hysterisch wirkenden Unduldsamkeit, die Spaltungen nehmen zu und mit ihr die Sprachlosigkeit zwischen unterschiedlichen „Lagern“. Das lässt sich in vielen Situationen, an vielen Orten und auf vielen Ebenen beobachten. Auch die Postmoderne scheint ihre Dialektik zu haben.

Um uns, vorübergehend, pragmatisch auf gemeinsam geteilte Wahrheiten einigen zu können, brauchen wir übergeordnete Bezugspunkte. Wir müssen uns irgendwie auf einer Metaebene darüber verständigen, wie wir uns gemeinsam auf sehr unterschiedlichen Wirklichkeiten und Wahrnehmungen beziehen können. Wie also organisieren menschliche Gemeinschaften verbindende Wahrheiten.

In diesem Kontext entstanden, als übergeordnete und die Wirklichkeit organisierende Ordner (Ordnungssysteme), archaische Mythen, verschiedene Religionen, vormoderne und moderne Weltanschauungen, wie der Humanismus oder die Wissenschaft.

Die Aufklärung war beseelt von der Vision, die Vernunft, eine bestimmte Form von Wissenschaftlichkeit könne als eine Art Superordner für die Erschaffung gemeinsam geteilter Wahrheiten fungieren – bis die Postmoderne auch diese Vision zertrümmerte. Was bleibt, ist Mathematik. Technische Medien und Algorithmen füllen scheinbar die Lücke, aber technische Medien und Algorithmen bleiben »kalt«, sie kennen keine Emotionen und Intentionen; vom Menschen in den Mittelpunkt gerückt, in den Valleys dieser Welt angebetet und überall  zur Herrschaft gebracht, entleert die reine Datentechnik gleichzeitig die Räume der Zwischenmenschlichkeit, beschleunigt Entfremdung und gesellschaftlichen Zerfall. Der mächtige Ordner Datentechnik, der so euphorisch gefeiert wird und gleichzeitig so tief beunruhigt, er kann die emotionalen Lücken nicht füllen (wie sollte er auch, ist er doch selbst verantwortlich für die seelische Leere und die soziale Wüstenei).  Die Sorge scheint nicht unbegründet, dass im allgemeinen Chaos der Frustrationen ein lachender Dritter die Macht ergreifen könnte, der Autoritarismus, der bereits an vielen Orten herrscht. Wirklich fürchten sollten wir eine Verbindung von Autoritarismus und Datentechnik, eine Allianz die sich abzeichnet. In einer Welt des datentechnisch gestützten Totalitarismus wird es keinen Platz mehr geben für die Frage, wie wir zu gemeinsam geteilten Wahrheiten kommen.

Offenbar leben wir heute in einer Welt, die sich nicht mehr auf gemeinsame Bezugspunkte, auf gemeinsam akzeptierte und respektierte Ordner, einigen kann. Die Welt gemeinsam geteilter Wahrheiten löst sich auf. Wie finden wir einen neuen Konsens darüber, wie, mit welchen Mitteln und nach welchen Regeln, wir die Welt, in der wir alle leben, gemeinsam anschauen und entwerfen wollen?

Mysteriöse Welten (Salman Rushdie)

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„Aber was mein Vater, der sich nie dem Gras hingab, an besonderer Stelle auf dem Sims aufbewahrte, war etwas viel Selteneres, etwas Legendäres, nahezu Okkultes. ‚Afghan Moon‘, sagte mein Vater. ‚Wenn du das nimmst, öffnet sich das dritte Auge in deiner Zirbeldrüse, mitten auf deiner Stirn, du wirst hellsichtig, und nur wenige Geheimnisse bleiben dir verschlossen.‘

‚Warum hast du es dann nie genommen‘, fragte ich.

‚Weil eine Welt ohne Mysterien wie ein Bild ohne Schatten ist‘, sagte er. ‚Du siehst zu viel, und es zeigt sich dir nichts‘.“

(Salman Rushdie, Golden House, S.42)