Sinnlich erlebte Wirklichkeit

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Über Leben in Auschwitz (SZ.de vom 24. Januar 2020)

Ein bemerkenswerter Essay des Historikers Nikolaus Wachsmann über die Wirklichkeit des Lagerlebens, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Das ist auch theoretisch bemerkenswert: Die konkrete Beschreibung der sinnlich erlebten Erfahrung führt alle postmodernen Versuche, Wirklichkeiten im Ungefähren und Beliebigen aufzulösen, ad Absurdum. Sicher, wir können die Wirklichkeit nur subjektiv erfassen, daher es gibt viele „Wahrheiten“ und Interpretationen von Wirklichkeiten. Aber die konkreten Erzählungen all der Menschen, die Auschwitz erlebten, fügen sich zu einer Gesamtschau, zu einer Wirklichkeit der Tatsachen zusammen. Wir können Tatsachen (im Wittgensteinschen Sinn) leugnen oder uns mitfühlend einfühlen, aber wir können sie nicht auslöschen. Eine Theorie des Sozialen darf Menschen und ihre Emotionen nicht ausschließen. Eine Theorie des Zwischenmenschlichen sollte sowohl Menschen als handelnde Akteure zeigen als auch die Muster ihrer Kommunikationen und Beziehungen sichtbar machen. Vor allem muss sie uns in die Lage versetzen, unvoreingenommen und mitfühlend zu beobachten und zuzuhören, um sinnlich erlebte Wirklichkeiten aufzuheben und zu transformieren.