Woher kommen Macht und Gewalt?

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Sind Gewehre mächtig?  Macht kommt aus dem Lauf der Gewehre, so heißt es. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Gewehre exekutieren nur die Idee der Macht, die sich durch Worte und Sätze in den Köpfen und Herzen der Menschen festsetzen und verbreitet. 

Sind Kugeln gewalttätig? Kugeln können zerstören, aber sie sind nicht gewalttätig. Gewalttätig können nur Menschen sein. 

Die gefährlichsten Waffen der Menschheit sind keine Gewehre oder Bomben,  sondern Worte und Sätze. Worte, die zu Sätzen und Ideologien zusammengefügt, die Herzen und Köpfe derjenigen steuern, die Waffen benutzen. 

Freiheit der Kritik

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Mitten im zweiten Weltkrieg, 1942, gaben Time und Enzyklopädia Britannica mehr als 200.000 $ aus, um den Zustand und die Zukunft der Presse zu untersuchen. 1946 erschien der Bericht, in ihm heißt es:

„Wir empfehlen, dass die Angehörigen der Presse sich in intensiver gegenseitiger Kritik üben. Ein hoher professioneller Standard wird kaum erreicht werden, solange die Fehler und Irrtümer, die Betrügereien und Verbrechen einzelner Pressevertreter von anderen Mitgliedern des Berufsstandes schweigend übergangen werden. Wenn die Presse rechenschaftspflichtig sein soll – und das muss sie sein, wenn sie weiterhin frei bleiben soll – müssen sich ihre Mitglieder gegenseitig mit dem einzigen Mittel disziplinieren, welches Ihnen zur Verfügung steht, nämlich der öffentlichen Kritik.

Mitmenschlichkeit und Grausamkeit – zur Ambivalenz der Kulturentwicklung

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Mitmenschlichkeit und Grausamkeit – zur Ambivalenz der Kulturentwicklung. Ein Exkurs:


Einen Eindruck von der Ambivalenz der Kulturentwicklung vermittelt ein Bericht über die Achè. Die Achè, ein Stamm von Jägern und Sammlern, verfolgten bis in die 1960er Jahre hinein seinen ursprünglichen Lebensstil und die durchstreiften die Urwälder Paraguays: »Wenn ein angesehenes Mitglied der Gruppe starb, töteten die Aché traditionell ein Mädchen und bestatteten die beiden zusammen…Wenn alte Frauen der Gruppe zur Last fielen, schlich sich ein junger Mann von hinten an sie heran und erschlug sie mit einer Axt…Kinder, die ohne Haare zur Welt kamen, galten als unterentwickelt und wurden sofort getötet…Bei einer anderen Gelegenheit erschlug ein Mann einen kleinen Jungen, ’weil er immer schlecht gelaunt war und viel weinte‘. Ein anderes Kind wurde lebendig begraben, ’weil es komisch aussah und die anderen Kinder es gehänselt haben’»[1]. Die Anthropologen, die lange mit den Aché zusammenlebten, berichten andererseits, »es sei ausgesprochen selten zu Gewalt zwischen Erwachsenen gekommen. Frauen und Männer konnten nach Belieben ihre Partner wechseln. Sie lächelten und lachten unaufhörlich, hatten keine Anführer und mieden herrschsüchtige Stammesgenossen. Sie waren ausgesprochen großzügig und hatten kein Interesse an Erfolg oder Wohlstand. Harmonisches Zusammenleben und gute Freundschaften waren ihnen wichtiger als alles andere im Leben« (ebd. S. 73). Ich nehme an, wir unterscheiden uns im Grunde nicht allzu sehr von den Achè. Gewalt und Mitgefühl[2]liegen oft näher beieinander, als uns lieb ist, und wenn wir darüber nachdenken, befällt uns jenes »Unbehagen in der Kultur«, von dem bereits Freud (1930) spricht.

Ich glaube aber, dass ein aufgeklärter Humanismus sich mit dem auseinandersetzen muss, was wir lieber nicht wissen wollen[3] (vgl. Hustvedt (2015, S. 281). Erst dann erhalten wir ein realistisches und vollständiges Bild von den Ausgangsbedingungen, mit denen wir zu allen Zeiten und an allen Orten rechnen müssen, gerade wenn wir ein möglichst gutes und gelingendes Zusammenleben gestalten wollen. Ich nehme an, dass Hannah Arendt auf diesen Zusammenhang hinweisen wollte, als sie schrieb: „Der europäische Humanismus, weit davon entfernt, die Wurzel des Nazitums zu sein, war auf diesen oder auf irgendeine andere Form totaler Herrschaft so wenig vorbereitet, dass wir uns beim Verständnis dieses Phänomens und bei seiner Einordnung weder auf die begriffliche Sprache noch auf die traditionellen Metaphern dieses Humanismus verlassen können. Darin liegt jedoch eine Bedrohung für alle Formen des Humanismus: Ihm droht die Gefahr, irrelevant zu werden“ (Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft).

Mitmenschlichkeit und Grausamkeit scheinen als Möglichkeit in uns allen und zwischen uns angelegt zu sein, ein ambivalentes Potenzial, das sich in bestimmten Situationen[4], so oder so, zeigt. Es fällt uns schwer, dieses destruktive Potenzial in uns zu akzeptieren, deshalb neigen wir dazu, in unseren Weltsichten alles Destruktive, Barbarische oder Bösartige abzuspalten oder auszulagern[5]. Ein aufgeklärter Humanismus hingegen muss einen begrifflichen Rahmen schaffen, in dem Mitmenschlichkeit und Grausamkeit als zwei Seiten der menschlichen Entwicklung auftauchen, mit dem Ziel, Gewalt einzudämmen und Mitgefühl zu bestärken. Jeder Mensch habe, sagt Margaret Atwood, »…ein nobles Ich (das Ich, das wir gerne wären), ein Alltags-Ich (das einigermaßen manierlich daherkommt), und ein verborgenes, viel weniger tugendhaftes Ich, das in Augenblicken der Bedrohung und Wut hervorbrechen und unsägliche Dinge tun kann«[6]. Davon müssen wir ausgehen.
Zweifellos beobachten wir in der Kulturentwicklung eine beachtliche Zunahme an Kooperation, sozialer Verantwortlichkeit, altruistischem Handeln, uneigennützigem Teilen, Solidarität und Toleranz. Das gilt jedoch zunächst meist nur innerhalb der eigenen Gruppe, des eigenen Stamms oder Clans. Die andere Seite der Kulturentwicklung zeigt sich, wenn Personen als außerhalb der eigenen Gruppe liegend, als nicht zugehörig angesehen werden. Ignoranz, Raub, Mord und Totschlag, Folter, Versklavung, grausame Gewalt, alles ist dann möglich[7].

Konkurrenz, Rivalität und kooperative Aggression[8] zwischen Gruppen spielt eine bedeutende Rolle unter Menschen: »Wenn eine Gruppe kooperiert, um eine andere anzugreifen, ist die wirksamste Antwort darauf normalerweise, bei der Verteidigung ebenfalls zu kooperieren…Das Entwerfen von Schlachtplänen und Strategien, die Entwicklung von Waffentechnik, Organisation und Verwaltungseinrichtungen, Bluffen und Täuschen, Tapferkeit und Heldentum sind nur einige der Merkmale, die durch permanente Bedrohung und Konflikte selektiert worden sein mögen« (Suddendorf, 2020, 353). Beim Jagen wilder Tiere, in der Auseinandersetzung mit anderen Clans oder anderen Menschenarten können Menschen, kollektiv verstärkt, äußerst aggressiv, brutal und grausam agieren. Vor etwa 2 Millionen Jahren begannen die ersten Homini, vorher Sammler und Vegetarier, Aas zu essen[9]. Später  beginnen die Homini zu jagen, um frisches Fleisch zu erbeuten. Aus Gejagten werden Jäger. Um schnelle Tiere oder gefährliche Raubtiere, die körperlich weit überlegen sind, zu jagen und zu töten, erfinden die schlauen Menschen psychologische Tricks, Waffen und neue Kampftaktiken. Als Kollektiv setzen sie kooperative Kampftechniken ein, und individuell schlüpfen sie, dank ihrer mentalen Stärke, in die Rolle von Tieren, die sie jagen, sie bewegen sich wie sie, ahmen deren Bewegungen, Kampftechniken und Kampfmimiken nach. Frauen blieben wahrscheinlich eher bei den Kindern am Feuer, Männer gingen auf die Jagd, »was körperlich extrem anstrengend ist: Sie mussten Beute aufspüren, verletzen, einer Blutspur tagelang folgen, schließlich das Tier mit Speer und Stein umbringen. Unsere These lautet, dass diejenigen Männer besonders großen Jagderfolg hatten,…die solche Entbehrungen als lustvoll empfunden haben…Hinzu kam, dass die Menschen sich bei Jagd und Kampf zusammengeschlossen haben, um große Tiere wie Mammuts oder feindliche Horden niederzumachen. Deshalb ist Gewalt in Gruppen für Männer besonders faszinierend«[10]. Diese Faszination hat eine dunkle Seite: kollektive Tötungslust[11]. Sicher können Menschen jeder geschlechtlichen Art oder Orientierung gewalttätig und grausam sein, doch Kampfgruppen im kollektiven Tötungsrausch sind fast immer »männlich« besetzt. Männer lernen in Männerbünden[12] sich vor einem Kampfereignis gegenseitig »heiß« zu machen, sich dem Kampfrausch hinzugeben, und sich hinterher für Gewaltakte und Grausamkeiten zu bewundern und zu feiern.

In Krisenzeiten kann die Situation zudem auch innerhalb von Gruppen schnell kippen. Wenn Ressourcen – Nahrung, Wasser, Jagdgründe, Sexualpartner[13] – knapp werden, zeigen sich gewalttätige und grausame Verhaltensweisen auch innerhalb der eigenen Gruppe. Wenn der Contract Social (Rousseau, 1762) zerbricht, wird deutlich, dass jede soziale Organisation aus einem fragilen Netzwerk von Beziehungsdefinitionen besteht, das leicht zerbrechen kann, wenn die Bedingungen sich verändern.

Der Prozess der Zivilisation ist ambivalent[14] – europäischer Kolonialismus und europäische Humanismus gingen Hand in Hand -, und er bleibt störanfällig. Unter der Oberfläche pulsiert eine wilde oder rohe Intoleranz (Eco, 2020, S. 56), die jederzeit aufbrechen kann. Wie Menschen  handeln, hängt immer von den äußeren Bedingungen und den inneren Landkarten ab.

 

[1]  Kim Hill und A. Magdalena Hurtado. Aché Life History, zit. nach Harari (2015). Eine kleine Geschichte der Menschheit, S. 72 und 73.

[2] Eine ausführliche und lesenswerte Darstellung dieses Themas findet sich bei Sapolsky, 2017

[3] Vgl. Hustvedt (2015, S. 281)

[4] Vgl. Philipp Zimbardo, 2005, Das Stanford Gefängnis Experiment.

[5] Nicht wir sind es, nein es sind Dämonen, Götter, Teufel, der Kapitalismus, der Kommunismus, die Umstände des Heranwachsens, das „Tierische“ in uns, in Zweifelsfall aber immer die Anderen.

[6]  Margaret Atwood (2017). Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels

[7] Deshalb erfüllt uns auch kaum etwas mit mehr Schrecken, als von der eigenen Gruppe, dem eigenen Clan, dem eigenen Volk, ausgeschlossen zu werden. Schon eine indirekte Drohung reicht aus, um Menschen gefügig zu machen

[8]  »Die gemeinen Schimpansen sind die einzigen weiteren Primaten, von denen bekannt ist, dass sie kooperieren, um Mitglieder der eigenen Spezies zu töten« (Suddendorf, 2014, S. 26.), vgl. auch ebd. S. 354

[9]  Vgl. Lewis R. Binford (1981). Bones. Ancient Men and Modern Myth.

[10] Thomas Elbert, SZ-Interview 28/29.8.2010

[11] Vgl. Klaus Theweleit (2015), Das Lachen der Täter.

[12]  Männerbande – Männerbünde Lit angabe….

[13]  Später: Territorien, Anbaugebiete, Bodenschätze, Macht, Kapital, Aufmerksamkeit (Frank, 1998), Anerkennung, Ruhm, Wohnräume, Bildungs- Beteiligungs- und Entwicklungschancen, Sicherheit.

[14]  Vgl. Zygmund Baumann (2005). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit.

Fünf Milieufaktoren, die den Missbrauch von Macht und Gewalt begünstigen

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Das Monströse ist immer menschengemacht. Ob es um Familienstrukturen, Kirchenstrukturen, Schulstrukturen, Organisationen oder staatliche Strukturen geht – alle Untersuchungen und Tatsachen zu diesem Thema verweisen auf fünf herausragende kulturübergreifende Milieufaktoren, die ein erheblich erhöhtes Risiko für den Missbrauch von Macht und Gewalt darstellen:

(A) Strikte und starre Hierarchien und damit verbundene Loyalitätsbindungen,

(B) Abschottung nach Außen und „Omerta“ (ein Verschwiegenheitsgebot und eine Verschwiegenheitsmentalität, die Täter schützt und Opfer einschüchtert),

(C) Großes Machtgefälle innerhalb der Hierarchien und „Kadavergehorsam“,

(D) Personale Überhöhung/ Idealisierung/(Geniekult) von systemimmanenten Personen und Funktionsträgern, die angeblich einen „besonderen“, privilegierten Zugang zu einem „höheren (geheimen) Wissen“, zu einer besonderen Weisheit, zu etwas Heiligem, oder einem übergeordneten Ideal besitzen (Götter, höhere Weisheiten, „der Wille des Volkes“, „der Mission des Proletariats…).

(E) Herabsetzung, Verachtung oder Dämonisierung aller „Andersartigen“ (Personen, Gemeinschaften, Völker, Weltanschauungen, Lebensstile, Gesellschaftsentwürfe). Wohl zu unterscheiden von Kritik!

Gemeinschaften oder Milieus, die sich auf die beschriebene Weise organisieren, bergen – egal in welcher Kultur, an welchem Ort oder zu welcher Zeit – ein erheblich erhöhtes Risiko für den Missbrauch von Macht und Gewalt (gewaltsame körperliche, mentale oder psychische Übergriffe) – sowohl gegenüber Einzelnen als auch gegenüber Gruppen oder ganzen Gemeinschaften oder Völkern