Woher kommen Macht und Gewalt?

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Sind Gewehre mächtig?  Macht kommt aus dem Lauf der Gewehre, so heißt es. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Gewehre exekutieren nur die Idee der Macht, die sich durch Worte und Sätze in den Köpfen und Herzen der Menschen festsetzen und verbreitet. 

Sind Kugeln gewalttätig? Kugeln können zerstören, aber sie sind nicht gewalttätig. Gewalttätig können nur Menschen sein. 

Die gefährlichsten Waffen der Menschheit sind keine Gewehre oder Bomben,  sondern Worte und Sätze. Worte, die zu Sätzen und Ideologien zusammengefügt, die Herzen und Köpfe derjenigen steuern, die Waffen benutzen. 

Bereitschaft zum Frieden ist die einzige Option – Tikun Olam

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Wie können wir in Sätze fassen, was in Worten nicht zu fassen ist? Schweigen wäre eine Option. Aber Schweigen ist ein Statement. Verstummen ist keine Option. 

Frieden ist die einzige Option, so heißt ein schmaler Band mit Essays und Reden von David Grossmann vor und nach dem 7. Oktober. Ich bewundere die Klarheit der Worte, mit denen der israelische Schriftsteller sagt, was gesagt werden kann und muss. Und ich erschrecke mit ihm. Israelis und Palästinenser befinden sich in einer tragischen Umklammerung, in der Hass und Gewalt immer nur mehr eskalieren. Es gibt Ideen für Lösungen, natürlich, aber niemand scheint sich den Weg dorthin wirklich vorstellen zu können. Nicht nach dem, was passiert ist. Oder doch?

Zweifellos gibt es, wie Grossmann schreibt, eine Hierarchie des Bösen, und die Hamas hat mit ihrem grausamen Überfall am 7. Oktober eine neue Dimension des Terrorismus eröffnet. Es gibt Videos, die niemand sehen, die man niemandem zeigen möchte. Killing fields, in Echtzeit mit webcams. „Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hammas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, alte und kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein viel schwereres Verbrechen „(Grossmann, 2024, S. 43). Offensichtlich hat die Hamas den Gazastreifen mit Milliarden von Unterstützungsgeldern zu einer Angriffsfestung mit Tunneln, Waffenfabriken und Raketenabschussbasen unter Krankenhäusern, Schulen und Kindergärten ausgebaut, mit dem Ziel, Israel zu vernichten und einen totalitären Gottesstaat in Palästina zu errichten. Dieses Ziel heiligt offenbar alle Mittel. Das eigene Volk wird als lebender Schutzschild missbraucht. Die Leiden der Kinder in diesem Krieg, die selbst in Bildern aus der Entfernung kaum zu ertragen sind, dienen der Hamas als moralische Munition für ihren Propagandakrieg. Die Geiseln sind weiterhin in ihrer Hand, und die Hamas schießt weiter Raketen auf Israel. Ein diabolischer, ein böser Plan, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Absurd, abwegig und gefährlich ist es, diese Art von grausamer Bösartigkeit zu ignorieren oder als Befreiungskampf zu bezeichnen. 

Und doch gefährdet in erster Linie die Politik der Netanjahu-Regierung und ihrer rechtsradikalen Unterstützer die Existenz Israels. Die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik im Westjordanland, der ultraorthodoxe Auserwähltheitswahn, der Rassismus, die Demütigung der Palästinenser, der Versuch, die Unabhängigkeit der Justiz abzuschaffen, all das schwächt den Staat Israel und seine Bestimmung als Heimstadt eines humanitären Judentums. „Dieses Land wurde preisgegeben – zu Gunsten eigener Interessen, zu Gunsten einer zynischen, schlafwandlerischen, unvernünftige Politik „(Grossman, 2024, S. 42).   

„Die Israelis und die Palästinenser“ schrieb Grossmann noch vor dem 7. Oktober „bekämpfen sich nun schon seit mehr als 100 Jahren. Man muss nicht Kassandra sein, um zu sehen und vorher zu sagen, welche Zerstörung dieser Konflikt über beide Seiten gebracht hat und noch bringen wird. Die ununterbrochene, blutige Auseinandersetzung hat die Beteiligten dermaßen deformiert, dass sie ihren eigenen existenziellen Interessen zuwiderhandeln. Ein von Hass, Angst und Misstrauen geprägtes Leben beengt die Seele und das Denken – und lässt die Fähigkeit verkümmern, sich aus der Falle zu retten. Wir dort unten führen kein Leben im echten Wortsinn, es ist vielmehr ein verzweifeltes Überleben von einer Katastrophe zur nächsten, von einem Krieg zum anderen. Der Verlust der Hoffnung hat bei israelischen und palästinensischen Bürgern gleichermaßen zu Apathie und Lähmung geführt. Beide Bevölkerungen sind zu Rohstoff in den Händen fanatischer, religiöser und nationalistischer Manipulatoren geworden, die extreme totalitäre Absichten hegen „(Grossman, 2024, S. 7). Israelis und Palästinenser, gekidnappt von den eigenen Fanatikern.

„Wer werden wir sein, wenn wir uns aus dem Staub erheben… Welche Art Mensch werden wir sein, wenn wir gesehen haben, was zu sehen war? „fragt Grossmann (ebd., S. 44). Diese Frage können wir uns auch selbst stellen. Es gibt eine Zeit nach dem Krieg? Wie wird unsere Welt dann aussehen, wer werden wir sein? Rückwärtsgewandter und gewaltbereiter? Vermutlich. Noch ist das ganze Ausmaß des angstgetriebenen Hasses und der ideologiegetriebenen Gewalt kaum abzuschätzen. Doch es wäre naiv, sich nicht darauf vorzubereiten. 

Was hält und trägt? Die Hoffnung, dass sich weltweit möglichst viele Menschen von Ideologien des Kampfes, des Hasses und der Gewalt nicht nur distanzieren, sondern aktiv friedliche und konstruktive Formen der Kooperation unterstützen, schützen und entwickeln.  

Rechte, linke und religiöse Fundamentalisten hingegen verherrlichen und feiern Feindschaft, Kampf und Gewalt. Die Entgrenzung von Gewalt und Grausamkeit gehört traditionell zum Programm. Sie ist und bleibt der Kern totalitärer Weltanschauungen. Das ist die Lehre von Ausschwitz, die sich im Massaker vom 7. Oktober ebenso wie in den Reaktionen auf dieses Massaker einmal mehr bestätigt. Im Schatten der Postmoderne marschieren die Truppen der Gegenaufklärung in traditionellen und neuen bunten Gewändern, doch die Grundidee, die Substanz, bleibt gleich: Kampf, Gewalt und Grausamkeit werden politisch gerechtfertigt und kulturell gefeiert. Auf den Schlachtfeldern, im Netz, im Hörsaal, auf der Sonnenallee, auf dem roten Teppich. Als wäre da nichts gewesen im 20. Jahrhundert. Als hätten wir nichts Besseres zu tun angesichts der Desaster, die wir als Spezies anrichten, und den Herausforderungen, die sich daraus ergeben. 

Zuversichtlich stimmen die vielen Hunderttausende, die jetzt gegen die aufkeimende Menschenverachtung auf die Straße gehen. Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die kapiert haben, was auf dem Spiel steht.

Die Vertreter von Freiheit und Aufklärung, von Völkerrecht und Menschenrechten sind überzeugt davon, dass moderne Gesellschaften im Inneren und untereinander Meinungsverschiedenheiten, Konflikte und Probleme auf friedliche Art und Weise, durch kreative und konstruktive Kooperation, lösen können. Trotz unterschiedlicher Erfahrungen, Ansichten, Überzeugungen und Identifizierungen. Eine solche Lösungsstrategie erscheint mehr als vernünftig, wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen. Es ist tatsächlich die einzige Option.

Die Ideologen der Gegenaufklärung hingegen schüren Hass und Gewaltbereitschaft. Immer geht es gegen irgendeinen „Feind“. Der Krieg war schon immer der Vater aller Dinge, rufen sie. Tötet sie, bevor sie uns töten. Kampfmüdigkeit und Unfähigkeit zu Grausamkeit seien nichts weiter als Zeichen von Dekadenz und Schwäche. Vom ewigen Faschismus (Umberto Eco) kann man nichts anderes erwarten. Von Gotteskriegern ebenfalls nicht. Aber auch der woke-linke, radikale Postkolonialismus kritisiert nicht die Logik und Gewalt des Kolonialismus und Imperialismus, er kehrt dessen Logik und Gewalt schlicht um, gegen die alten Herrschaften. Universalismus, allgemeine (!) Menschenrechte und Völkerrecht, dienen in dieser Perspektive der mentalen Knebelung und realen Unterdrückung des „globalen Südens“ – also weg damit! 

Es läuft auf einen ideologischen und kulturellen Kampf hinaus, wie Menschen mit Konflikten umgehen soll(t)en. Keine Ahnung, wie die Sache ausgeht. Du kannst nicht ausweichen, wenn dir Krieg aufgezwungen wird. Wenn es heißt Freiheit oder Unterwerfung bin ich für Kämpfen oder Flüchten. Gewinnen aber können wir nur, wenn wir den anderen zubilligen, was wir uns selbst wünschen. Man kann Waffen, Häuser und Landschaften zerstören und Menschen töten, nicht aber die Idee von Freiheit und Selbstbestimmung (schau nur mal, wo sie alle hin wollen, die jungen Menschen aus Russland, aus China, aus der Türkei, aus den arabischen Ländern, wie mutig sie waren und sind, am Tien an men, in Hongkong, in Aleppo, am Maidan, im Iran, bei der Beerdigung von Nawalny). 

 Doch wie viele Albträume erträgt der Mensch, ohne selbst zum Albtraum zu werden, für sich selbst und andere? Wie lange kannst du die Fähigkeit wach halten, die Verletzungen und Schmerzen deiner Gegner zu spüren und zu betrauern? Vielleicht kommt es genau darauf an, wenn du dich aus dem Staub erhebst.

Tikun Olam bezeichnet auf hebräisch unser „Streben und die Verpflichtung, unsere Welt besser zu machen“ (Grossman, 2024, S .59), und auch, wenn uns das viel zu selten gelingt, so glaube ich doch, dass uns diese Haltung lebendig hält. Die Zuversicht, die sich in diesem Streben ausdrückt, kann eine „Bewegung der Seele gegen die niederdrückende Schwerkraft der Verzweiflung“ (ebd.,S. 59) sein. Die Bereitschaft und Fähigkeit, Frieden zu schließen, scheint mir die einzig sinnvolle, in die Zukunft weisende Option,

Jan, 24.2.2024

Mitmenschlichkeit und Grausamkeit – zur Ambivalenz der Kulturentwicklung

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Mitmenschlichkeit und Grausamkeit – zur Ambivalenz der Kulturentwicklung. Ein Exkurs:


Einen Eindruck von der Ambivalenz der Kulturentwicklung vermittelt ein Bericht über die Achè. Die Achè, ein Stamm von Jägern und Sammlern, verfolgten bis in die 1960er Jahre hinein seinen ursprünglichen Lebensstil und die durchstreiften die Urwälder Paraguays: »Wenn ein angesehenes Mitglied der Gruppe starb, töteten die Aché traditionell ein Mädchen und bestatteten die beiden zusammen…Wenn alte Frauen der Gruppe zur Last fielen, schlich sich ein junger Mann von hinten an sie heran und erschlug sie mit einer Axt…Kinder, die ohne Haare zur Welt kamen, galten als unterentwickelt und wurden sofort getötet…Bei einer anderen Gelegenheit erschlug ein Mann einen kleinen Jungen, ’weil er immer schlecht gelaunt war und viel weinte‘. Ein anderes Kind wurde lebendig begraben, ’weil es komisch aussah und die anderen Kinder es gehänselt haben’»[1]. Die Anthropologen, die lange mit den Aché zusammenlebten, berichten andererseits, »es sei ausgesprochen selten zu Gewalt zwischen Erwachsenen gekommen. Frauen und Männer konnten nach Belieben ihre Partner wechseln. Sie lächelten und lachten unaufhörlich, hatten keine Anführer und mieden herrschsüchtige Stammesgenossen. Sie waren ausgesprochen großzügig und hatten kein Interesse an Erfolg oder Wohlstand. Harmonisches Zusammenleben und gute Freundschaften waren ihnen wichtiger als alles andere im Leben« (ebd. S. 73). Ich nehme an, wir unterscheiden uns im Grunde nicht allzu sehr von den Achè. Gewalt und Mitgefühl[2]liegen oft näher beieinander, als uns lieb ist, und wenn wir darüber nachdenken, befällt uns jenes »Unbehagen in der Kultur«, von dem bereits Freud (1930) spricht.

Ich glaube aber, dass ein aufgeklärter Humanismus sich mit dem auseinandersetzen muss, was wir lieber nicht wissen wollen[3] (vgl. Hustvedt (2015, S. 281). Erst dann erhalten wir ein realistisches und vollständiges Bild von den Ausgangsbedingungen, mit denen wir zu allen Zeiten und an allen Orten rechnen müssen, gerade wenn wir ein möglichst gutes und gelingendes Zusammenleben gestalten wollen. Ich nehme an, dass Hannah Arendt auf diesen Zusammenhang hinweisen wollte, als sie schrieb: „Der europäische Humanismus, weit davon entfernt, die Wurzel des Nazitums zu sein, war auf diesen oder auf irgendeine andere Form totaler Herrschaft so wenig vorbereitet, dass wir uns beim Verständnis dieses Phänomens und bei seiner Einordnung weder auf die begriffliche Sprache noch auf die traditionellen Metaphern dieses Humanismus verlassen können. Darin liegt jedoch eine Bedrohung für alle Formen des Humanismus: Ihm droht die Gefahr, irrelevant zu werden“ (Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft).

Mitmenschlichkeit und Grausamkeit scheinen als Möglichkeit in uns allen und zwischen uns angelegt zu sein, ein ambivalentes Potenzial, das sich in bestimmten Situationen[4], so oder so, zeigt. Es fällt uns schwer, dieses destruktive Potenzial in uns zu akzeptieren, deshalb neigen wir dazu, in unseren Weltsichten alles Destruktive, Barbarische oder Bösartige abzuspalten oder auszulagern[5]. Ein aufgeklärter Humanismus hingegen muss einen begrifflichen Rahmen schaffen, in dem Mitmenschlichkeit und Grausamkeit als zwei Seiten der menschlichen Entwicklung auftauchen, mit dem Ziel, Gewalt einzudämmen und Mitgefühl zu bestärken. Jeder Mensch habe, sagt Margaret Atwood, »…ein nobles Ich (das Ich, das wir gerne wären), ein Alltags-Ich (das einigermaßen manierlich daherkommt), und ein verborgenes, viel weniger tugendhaftes Ich, das in Augenblicken der Bedrohung und Wut hervorbrechen und unsägliche Dinge tun kann«[6]. Davon müssen wir ausgehen.
Zweifellos beobachten wir in der Kulturentwicklung eine beachtliche Zunahme an Kooperation, sozialer Verantwortlichkeit, altruistischem Handeln, uneigennützigem Teilen, Solidarität und Toleranz. Das gilt jedoch zunächst meist nur innerhalb der eigenen Gruppe, des eigenen Stamms oder Clans. Die andere Seite der Kulturentwicklung zeigt sich, wenn Personen als außerhalb der eigenen Gruppe liegend, als nicht zugehörig angesehen werden. Ignoranz, Raub, Mord und Totschlag, Folter, Versklavung, grausame Gewalt, alles ist dann möglich[7].

Konkurrenz, Rivalität und kooperative Aggression[8] zwischen Gruppen spielt eine bedeutende Rolle unter Menschen: »Wenn eine Gruppe kooperiert, um eine andere anzugreifen, ist die wirksamste Antwort darauf normalerweise, bei der Verteidigung ebenfalls zu kooperieren…Das Entwerfen von Schlachtplänen und Strategien, die Entwicklung von Waffentechnik, Organisation und Verwaltungseinrichtungen, Bluffen und Täuschen, Tapferkeit und Heldentum sind nur einige der Merkmale, die durch permanente Bedrohung und Konflikte selektiert worden sein mögen« (Suddendorf, 2020, 353). Beim Jagen wilder Tiere, in der Auseinandersetzung mit anderen Clans oder anderen Menschenarten können Menschen, kollektiv verstärkt, äußerst aggressiv, brutal und grausam agieren. Vor etwa 2 Millionen Jahren begannen die ersten Homini, vorher Sammler und Vegetarier, Aas zu essen[9]. Später  beginnen die Homini zu jagen, um frisches Fleisch zu erbeuten. Aus Gejagten werden Jäger. Um schnelle Tiere oder gefährliche Raubtiere, die körperlich weit überlegen sind, zu jagen und zu töten, erfinden die schlauen Menschen psychologische Tricks, Waffen und neue Kampftaktiken. Als Kollektiv setzen sie kooperative Kampftechniken ein, und individuell schlüpfen sie, dank ihrer mentalen Stärke, in die Rolle von Tieren, die sie jagen, sie bewegen sich wie sie, ahmen deren Bewegungen, Kampftechniken und Kampfmimiken nach. Frauen blieben wahrscheinlich eher bei den Kindern am Feuer, Männer gingen auf die Jagd, »was körperlich extrem anstrengend ist: Sie mussten Beute aufspüren, verletzen, einer Blutspur tagelang folgen, schließlich das Tier mit Speer und Stein umbringen. Unsere These lautet, dass diejenigen Männer besonders großen Jagderfolg hatten,…die solche Entbehrungen als lustvoll empfunden haben…Hinzu kam, dass die Menschen sich bei Jagd und Kampf zusammengeschlossen haben, um große Tiere wie Mammuts oder feindliche Horden niederzumachen. Deshalb ist Gewalt in Gruppen für Männer besonders faszinierend«[10]. Diese Faszination hat eine dunkle Seite: kollektive Tötungslust[11]. Sicher können Menschen jeder geschlechtlichen Art oder Orientierung gewalttätig und grausam sein, doch Kampfgruppen im kollektiven Tötungsrausch sind fast immer »männlich« besetzt. Männer lernen in Männerbünden[12] sich vor einem Kampfereignis gegenseitig »heiß« zu machen, sich dem Kampfrausch hinzugeben, und sich hinterher für Gewaltakte und Grausamkeiten zu bewundern und zu feiern.

In Krisenzeiten kann die Situation zudem auch innerhalb von Gruppen schnell kippen. Wenn Ressourcen – Nahrung, Wasser, Jagdgründe, Sexualpartner[13] – knapp werden, zeigen sich gewalttätige und grausame Verhaltensweisen auch innerhalb der eigenen Gruppe. Wenn der Contract Social (Rousseau, 1762) zerbricht, wird deutlich, dass jede soziale Organisation aus einem fragilen Netzwerk von Beziehungsdefinitionen besteht, das leicht zerbrechen kann, wenn die Bedingungen sich verändern.

Der Prozess der Zivilisation ist ambivalent[14] – europäischer Kolonialismus und europäische Humanismus gingen Hand in Hand -, und er bleibt störanfällig. Unter der Oberfläche pulsiert eine wilde oder rohe Intoleranz (Eco, 2020, S. 56), die jederzeit aufbrechen kann. Wie Menschen  handeln, hängt immer von den äußeren Bedingungen und den inneren Landkarten ab.

 

[1]  Kim Hill und A. Magdalena Hurtado. Aché Life History, zit. nach Harari (2015). Eine kleine Geschichte der Menschheit, S. 72 und 73.

[2] Eine ausführliche und lesenswerte Darstellung dieses Themas findet sich bei Sapolsky, 2017

[3] Vgl. Hustvedt (2015, S. 281)

[4] Vgl. Philipp Zimbardo, 2005, Das Stanford Gefängnis Experiment.

[5] Nicht wir sind es, nein es sind Dämonen, Götter, Teufel, der Kapitalismus, der Kommunismus, die Umstände des Heranwachsens, das „Tierische“ in uns, in Zweifelsfall aber immer die Anderen.

[6]  Margaret Atwood (2017). Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels

[7] Deshalb erfüllt uns auch kaum etwas mit mehr Schrecken, als von der eigenen Gruppe, dem eigenen Clan, dem eigenen Volk, ausgeschlossen zu werden. Schon eine indirekte Drohung reicht aus, um Menschen gefügig zu machen

[8]  »Die gemeinen Schimpansen sind die einzigen weiteren Primaten, von denen bekannt ist, dass sie kooperieren, um Mitglieder der eigenen Spezies zu töten« (Suddendorf, 2014, S. 26.), vgl. auch ebd. S. 354

[9]  Vgl. Lewis R. Binford (1981). Bones. Ancient Men and Modern Myth.

[10] Thomas Elbert, SZ-Interview 28/29.8.2010

[11] Vgl. Klaus Theweleit (2015), Das Lachen der Täter.

[12]  Männerbande – Männerbünde Lit angabe….

[13]  Später: Territorien, Anbaugebiete, Bodenschätze, Macht, Kapital, Aufmerksamkeit (Frank, 1998), Anerkennung, Ruhm, Wohnräume, Bildungs- Beteiligungs- und Entwicklungschancen, Sicherheit.

[14]  Vgl. Zygmund Baumann (2005). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit.