Eintauchen in Gefühle – Empathie

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…DER GRÖßTE GENUSS BEIM MUSIZIEREN?

„Das ist für mich das Eintauchen in Gefühle, Geschichten, Abenteuer, die zwar im Kopf eines anderen Menschen entstanden sind, der in einem komplett anderen Leben, oftmals in einer anderen Zeit und Welt, zuhause war — und dann zu erleben, wie ich durch die Musik meine eigenen Erlebnisse und Gefühle verschmelzen lassen kann mit denen des Komponisten oder der „Menschheit“ allgemein.
Meine Hoffnung und eben auch manchmal größte Erfüllung ist, dass ich es schaffe, durch mein Spiel auch den Zuhörern ein ähnliches Erlebnis zu ermöglichen, dass jemand im Publikum für einen Moment Empathie mit der Menschheit und „Aufgewühlt – Werden“ zulässt, die Musik an sich heranlässt.“

Tanja Tetzlaff (Cellistin)

Wahrheit und Wahrhaftigkeit in den Zeiten von Lüge und Fake

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Wie können wir uns heute auf gemeinsam geteilte Wahrheiten einigen?

Wahrheiten verbinden, sie halten uns im Innersten zusammen und verknüpfen uns mit Anderen. Die Wahrheit ist, es gibt nicht die eine, absolute Wahrheit, es gibt viele Wahrheiten. Schon immer, seitdem die Menschen Geschichten erfinden, existieren an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit unterschiedliche Erzählungen über die Wahrheit. Unterschiedliche Perspektiven, Wahrnehmungen und Weltanschauungen bringen unterschiedliche Erzählungen, Realitäten und Wahrheiten hervor. Die Wirklichkeit ist vielschichtig und mehrdimensional, und wir erfinden unsere Wahrheiten immer wieder neu im kommunikativen Austausch.

Wenn wir uns von einer absoluten Wahrheit, der einen großen Erzählung verabschieden, wie können wir dann mit unterschiedlichen Wahrheiten leben? Es ist eins, mit großem Hurra das Ende aller großen Erzählungen zu verkünden, und etwas ganz anderes, sich in der neuen multiversen Welt, in der wir uns wiederfinden, wenn wir uns von der einen Wahrheit verabschiedet haben, gut zu bewegen. Wie kann das gelingen? Haben wir die Göße der Herausforderung schon verstanden?

Zunächst einmal, die anderen müssen mitmachen, denn wenn andere auf ihren Wahrheiten als einzig gültiger Wahrheit bestehen, wird es unausweichlich zum Konflikt kommen, und wenn dieser Konflikt eskaliert, wird der Ruf nach der einen Wahrheit mit Sicherheit wieder überall lauter werden (auch unter denen, die vorher die Abschaffung aller Wahrheiten laut bejubelt haben). Wer das Land der vielen Wahrheiten betreten und dort friedlich leben will, müsste am Eingang das Streben nach Macht und Dominanz aufgeben, und wer wollte oder könnte das schon so einfach tun.

Spätestens jetzt kommt das Lügen und das Bemühen um Wahrhaftigkeit ins Spiel. Die Lüge, ob aus Not geboren oder strategisch als Kalkül eingesetzt, im Ergebnis zerstört das Lügen das Vertrauen der Menschen zueinander, es entzweit, zerreißt Seelen und zerstört soziale Systeme. Im Gegensatz dazu zeigt sich Wahrhaftigkeit in dem redlichen Bemühen, sich selbst und die anderen nicht zu belügen. Das wird schon auf der bewussten Ebene ziemlich schwer, um von der unbewussten Ebene gar nicht zu reden. Nur wenn wir uns gegenseitig Wahrhaftigkeit und Authentizität unterstellen, können wir die jeweils Anderen in ihrer Wahrheit respektieren. Aber Lüge und Fake news sind ein Teil der Wahrheit, die wir nicht wegleugnen können.

Das wissenschaftliche Streben nach Wahrheiten im Sinne von Erkenntnis (die sich allmählich, in kuriosen Schleifen ausdehnt, ohne zu einem Endpunkt zu kommen) wurde noch gar nicht erwähnt. Dieses Streben ist aber unverzichtbar, wenn wir zusammen in unterschiedlichen Wahrheiten leben und überleben wollen. Ist eine Wahrheit akzeptabel, die dumpf und blöde und aggressiv darauf besteht, dass es, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Klimawandel nicht gibt? Wahrheiten im Sinne von Erkenntnissen entstehen in der lebendigen, beharrlichen, manchmal harten und schmerzlichen Auseinandersetzung über unterschiedliche Wahrheiten.

Galilei, Darwin, Freud oder Einstein haben durch ihre bahnbrechenden Erkenntnisse nicht nur Welten erschüttert sondern Menschen gekränkt, und auch wir selbst kommen nicht weiter, wenn wir nur immer daran denken, dass sich alle in ihren Wahrheiten nur immer ausreichend bestätigt und wertgeschätzt fühlen. Im Namen des Strebens nach Erkenntnis müssen wir den Anderen die Kränkungen der Erkenntnis zumuten.

Wenn wir also in einer Welt der multiverse Wahrheiten gemeinsam nach Wahrheiten im Sinne von Erkenntnissen streben wollen, dann müssen wir lernen, uns warmherzig und gleichzeitig sachlich glasklar auseinanderzusetzen, ohne zu Feinden zu werden und den Anderen zu dämonisieren; Das hieße, wir müssten kränkungsfähiger werden, und zwar im doppelten Sinne: Wir sollten die Kränkungen, die in den Wahrheiten der Anderen liegen, aushalten können, und wir sollten dem Anderen die Kränkungen, die in unseren Wahrheiten für ihn (vielleicht) liegen, zumuten können. Es hieße aber auch, Leute, die anderen ihre Lügen oder absoluten Wahrheiten aufzwingen wollen, zu bekämpfen.

Mir scheint, wir sind von einer solchen politischen Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung und Kränkungsfähigkeit weit entfernt. Eine solche Kultur aber wäre notwendig, nicht nur um mit unterschiedlichen Wahrheiten angemessen umzugehen.

Individuelle und kollektive Wahrheiten entstehen und zerfallen, und doch brauchen Gemeinschaften offenbar gemeinsam geteilte Wahrheiten zum Überleben wie die Luft zum Atmen. Offensichtlich können wir nur kooperieren, wenn wir uns, zumindest vorübergehend, auf gemeinsam geteilte Wahrheiten einigen können. Flexible und kreative Kooperation ist aber genau das, was uns als Spezies überlebensfähig macht und auszeichnet. Gruppen oder Gemeinschaften, die sich nicht (mehr) über gemeinsam geteilte Wahrheiten verständigen und auf gemeinsam geteilte Realitäten beziehen(können), zerfallen. Im besten Fall gehen die Leute friedlich ihrer Wege, im schlimmsten Fall kommt es zum Krieg.

Der Zerfall kollektiver Wahrheiten bedroht auch die individuellen Wahrheiten. Der Einzelne braucht individuelle Wahrheiten, um nicht verrückt zu werden. Wem die eigene Wahrnehmung in unverbundene Stücke zerfällt, wer nicht mehr zwischen der Realität, die die anderen miteinander teilen, und seinen Fiktionen oder Obsessionen unterscheiden kann, wird wahnsinnig. Genauso Gemeinschaften, eine Gesellschaft, die nicht mehr angemessen zwischen verschiedenen Wahrheiten, zwischen Lüge und Wahrhaftigkeit, zwischen Fakes und Fiktionen unterscheiden kann, verfällt dem Wahn.

Der Zerfall von Wahrheiten erzeugt Angst. Die Angst äußert sich depressiv, in der Entwertung eigener und anderer Realitätswahrnehmungen, die Angst äußert sich regressiv, indem eigene oder andere Wahrheiten oder Identitäten verkürzt oder versimpelt werden, und sie äußert sich aggressiv, wenn andere Wahrheiten oder Identitäten wild und ungezügelt bekämpft werden, um die eigenen Wahrheiten oder Identitäten zu retten. In einem solchen gesellschaftlichen Erregungszustand – sensibel, leicht kränkbar, ungeduldig – befinden wir uns gerade. Wie finden wir da heraus?

Wie können wir uns auf gemeinsam geteilte Wahrheiten einigen? Diese Frage stellt sich in jeder historischen Epoche, für jede Generation neu. Die Postmoderne versuchte ja durch die Zertrümmerung absoluter, rigider Wahrheiten eine neue Form der Rationalität zu installieren, die unterschiedliche Wahrheiten nicht ausschließt und eine Vielfalt von Wahrheiten begrüßt (Identitäten, Lebensäußerungen, Lebensstile, Kulturen, Wirklichkeitskonstruktionen). Das war die „Wahrheit“ einer Generation, die mit den großen Erzählungen, die im 20ten Jahrhundert so viel Unheil angerichtet hatten, endlich Schluss machen wollte (eine notwendige Zertrümmerung). Tolerante Sensibilität für Unterschiede, Heterogenität und Pluralität und die Fähigkeit, gegensätzliche, unverbundene, ja unvereinbare Sprachstile und Lebensweisen gelassen hinzunehmen – das würde sich dann schon einstellen, so hoffte man, und es gibt dafür sicher viele gute Beispiele. Doch die Dynamik geht gegenwärtig in eine ganz andere Richtung. Plötzlich steigen die alten Gespenster in neuen Gewändern aus der Gruft, quicklebendig, als wäre nichts gewesen. Die Atmosphäre ist angefüllt mit einer seltsamen, hysterisch wirkenden Unduldsamkeit, die Spaltungen nehmen zu und mit ihr die Sprachlosigkeit zwischen unterschiedlichen „Lagern“. Das lässt sich in vielen Situationen, an vielen Orten und auf vielen Ebenen beobachten. Auch die Postmoderne scheint ihre Dialektik zu haben.

Um uns, vorübergehend, pragmatisch auf gemeinsam geteilte Wahrheiten einigen zu können, brauchen wir übergeordnete Bezugspunkte. Wir müssen uns irgendwie auf einer Metaebene darüber verständigen, wie wir uns gemeinsam auf sehr unterschiedlichen Wirklichkeiten und Wahrnehmungen beziehen können. Wie also organisieren menschliche Gemeinschaften verbindende Wahrheiten.

In diesem Kontext entstanden, als übergeordnete und die Wirklichkeit organisierende Ordner (Ordnungssysteme), archaische Mythen, verschiedene Religionen, vormoderne und moderne Weltanschauungen, wie der Humanismus oder die Wissenschaft.

Die Aufklärung war beseelt von der Vision, die Vernunft, eine bestimmte Form von Wissenschaftlichkeit könne als eine Art Superordner für die Erschaffung gemeinsam geteilter Wahrheiten fungieren – bis die Postmoderne auch diese Vision zertrümmerte. Was bleibt, ist Mathematik. Technische Medien und Algorithmen füllen scheinbar die Lücke, aber technische Medien und Algorithmen bleiben »kalt«, sie kennen keine Emotionen und Intentionen; vom Menschen in den Mittelpunkt gerückt, in den Valleys dieser Welt angebetet und überall  zur Herrschaft gebracht, entleert die reine Datentechnik gleichzeitig die Räume der Zwischenmenschlichkeit, beschleunigt Entfremdung und gesellschaftlichen Zerfall. Der mächtige Ordner Datentechnik, der so euphorisch gefeiert wird und gleichzeitig so tief beunruhigt, er kann die emotionalen Lücken nicht füllen (wie sollte er auch, ist er doch selbst verantwortlich für die seelische Leere und die soziale Wüstenei).  Die Sorge scheint nicht unbegründet, dass im allgemeinen Chaos der Frustrationen ein lachender Dritter die Macht ergreifen könnte, der Autoritarismus, der bereits an vielen Orten herrscht. Wirklich fürchten sollten wir eine Verbindung von Autoritarismus und Datentechnik, eine Allianz die sich abzeichnet. In einer Welt des datentechnisch gestützten Totalitarismus wird es keinen Platz mehr geben für die Frage, wie wir zu gemeinsam geteilten Wahrheiten kommen.

Offenbar leben wir heute in einer Welt, die sich nicht mehr auf gemeinsame Bezugspunkte, auf gemeinsam akzeptierte und respektierte Ordner, einigen kann. Die Welt gemeinsam geteilter Wahrheiten löst sich auf. Wie finden wir einen neuen Konsens darüber, wie, mit welchen Mitteln und nach welchen Regeln, wir die Welt, in der wir alle leben, gemeinsam anschauen und entwerfen wollen?

Auf dem Seil – Till Eulenspiegel und die Leichtigkeit des Seins

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„Tyll Ulenspiegel über uns drehte sich, langsam und nachlässig – nicht wie einer, der in Gefahr ist, sondern wie einer, der sich neugierig umsieht. Der rechte Fuß stand längs auf dem Seil, der linke quer, die Knie ein wenig gebeugt und die Fäuste in die Seite gestemmt. Und wir alle, die wir hochsahen, begriffe mit einem Mal, was Leichtigkeit war. Wir begriffen, was das Leben sein kann für einen, der wirklich tut, was er will, und nichts glaubt und keinem gehorcht…“

(Daniel Kehlmann, Tyll, S. 20)

Mysteriöse Welten (Salman Rushdie)

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„Aber was mein Vater, der sich nie dem Gras hingab, an besonderer Stelle auf dem Sims aufbewahrte, war etwas viel Selteneres, etwas Legendäres, nahezu Okkultes. ‚Afghan Moon‘, sagte mein Vater. ‚Wenn du das nimmst, öffnet sich das dritte Auge in deiner Zirbeldrüse, mitten auf deiner Stirn, du wirst hellsichtig, und nur wenige Geheimnisse bleiben dir verschlossen.‘

‚Warum hast du es dann nie genommen‘, fragte ich.

‚Weil eine Welt ohne Mysterien wie ein Bild ohne Schatten ist‘, sagte er. ‚Du siehst zu viel, und es zeigt sich dir nichts‘.“

(Salman Rushdie, Golden House, S.42)

Gefühle als Quelle des Schreibens

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„Bücher können in Gefühlen verschiedenster Art ihren Ursprung haben. Man schreibt Bücher, angeschwungen von Begeisterung oder angeregt vom Gefühl einer Dankbarkeit, ebenso aber kann wiederum Erbitterung, Zorn oder Ärger geistige Leidenschaft entzünden. Manchmal wird Neugier zum Antrieb, die psychologische Lust, sich selber im Schreiben Menschen oder Geschehnisse zu erklären, aber auch Motive bedenklicher Art wie Eitelkeit, Geldlust, Freude an der Selbstbespiegelung treiben – allzu häufig – zur Produktion; eigentlich sollte sich darum ein Autor bei jedem Buche Rechenschaft geben, aus welchem persönlichen Bedürfnis er seinen Gegenstand gewählt hat“.

(Stefan Zweig, Magellan, S.7)

Wenn die Himmel einstürzen

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Unser Zeitalter ist seinem Wesen nach ein tragisches, also weigern wir uns, es tragisch zu nehmen. Die Katastrophe hat sich ereignet, wir stehen zwischen den Ruinen, wir beginnen, uns neue, kleine Behausungen aufzubauen und neue, kleine Hoffnungen zu hegen. Das ist harte Arbeit. Es gibt keinen ebenen Weg in die Zukunft, aber wir umgehen die Hindernisse oder klettern über sie hinweg. Wir müssen leben, ganz gleich, wie viele Himmel eingestürzt sind.

(D.H. Lawrence, Lady Chatterleys Liebhaber)

Wir nähern uns dem Fremden, indem wir seine Ferne grüßen

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 Ich bin sprachlos, verwirrt. Da sitzt diese kompetente, toughe Kollegin vor mir, wir arbeiten gut und  gerne zusammen, und die kulturellen Unterschiede schienen nach einiger Zeit doch nicht so groß. Jetzt das. Unvermittelt hebt sich ein Vorhang, gibt den Blick frei auf eine ganz andere, sehr fremde Gefühlswelt.

img_1772Eine Welt, in die ich mich nur schwer einfühlen kann, und doch berührt mich dieser Moment, bleibt mir im Gedächtnis. Durch die Tränen hindurch spüre ich einen Augenblick lang ein fremdes Erleben und erkenne, im selben Moment, mein eigenes Erleben als kulturell konstruiert: all die Emotionen, die mir so vertraut und selbstverständlich erscheinen, können, versetzt in eine andere kulturelle Umgebung, einen anderen Kontext, bedenklich ins Wanken geraten.

Topos des Fremden

Wir nähern uns dem Fremden, indem wir seine Ferne aushalten, schreibt Bernhard Waldenfels  in „Topos des Fremden“.  Ob wir nun in die Ferne reisen, oder ob wir in die Ferne fliehen, ob wir das Fremde in der Nähe suchen, oder ob das Fremde zu uns kommt – Wir nähern uns dem Fremden, indem wir seine Ferne aushalten. Alles andere ist Kitsch.

 Annäherung gelingt, wenn du es dem Fremden erlaubst, mit dir zu machen, was das Fremde eben mit dir macht: in dem einem Moment beflügelt es dich, in dem anderen läßt es dich wanken. Das Fremde zieht an und stößt ab, es  fasziniert und macht Angst, und manchmal graust es dich. Das Fremde ist gleichzeitig fern und ganz nah. Das Fremde bleibt mehrdeutig und unverfügbar. Das Fremde  kann dich tief hinab stürzen in deine eigenen Ängste, aber genau so gut kann es dich heraus katapultieren aus Stumpfsinn und Lethargie. In jedem Fall wirft das Fremde dich auf dich selbst zurück, auf das Fremde in dir. Angstlust. Die Fremdheit, das Fremdeln, ist eine Mischung aus Faszination und Angst.
 Du willst dich sicherer fühlen? Dann brich auf, zieh aus, steig über die Mauer, reiß die Wände ein, verlier das rettende Ufer aus den Augen, spring über die Schatten, die Feuer, verlier dich im Ungewissen. Geh durchs Chaos bis ans andere Ufer. Ohne Irritation kannst Du das Neue nicht entdecken. bleibst du ein  Gefangener deiner Ängste.

Mit etwas Glück kehrst du aus der Begegnung mit der Fremdheit als jemand zurück, der mit sich selbst ein wenig vertrauter ist.

Wir nähern uns dem Fremdem, indem wir seine Ferne grüßen.

Heimat ist ein Gefühl

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Heimat ist das Gefühl, das sich einstellt, wenn du dich in einer dir vertrauten Umgebung bewegst, selbstverständlich und ohne große Anstrengungen.

Umgebungen können sein: Eine vertraute Beziehung/ eine Gemeinschaft/ eine Sprache, in der du aufgewachsen bist, in und mit der sich deine Gefühle und Gedanken formten/ eine Tätigkeit, mit der du dich auskennst/ eine Weltanschauung, mit Hilfe derer du dich in der Welt orientieren kannst/ ein Ort, wo deine Wurzeln liegen/ ein bestimmter Lebensstil.

Heimat, sagt der Psychoanalytiker D.W. Winnicot, sei where we are coming from. Der  jüdisch-deutsche, aus Ungarn stammende Theatermacher  George Tabori antwortete auf die Frage, was denn seine Heimat sei, ein Bett und ein Buch, das genüge ihm.

Murakami – zur Bedeutung narrativer Wirklichkeiten

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Große gesellschaftliche Umwälzungen erfordern – ganz gleich, in welchem Zeitalter – zu Ihre Unterstützung stets auch Verschiebungen in der narrativen Wirklichkeit.

Erzählliteratur existiert als natürliche Metapher der Realität, und die Menschen brauchen immer neue Geschichten, das heißt neue Metaphernsysteme, die in ihrem Inneren heimisch werden, damit sie mit den veränderten Umständen Ihrer Umgebung Schritt halten können und nicht abgeschüttelt werden. Indem wir die beiden Systeme (gesellschaftliche und metaphorische Realität) verknüpfen, mit anderen Worten, subjektive und objektive Welt ineinandergreifen und einander ergänzen lassen, können wir uns leichter in einer ungewissen Realität verorten und geistige Stabilität bewahren.

(Haruki Murakami (2015). Von Beruf Schriftsteller. Dumont. S. 219)

Bedrohliche Fremdheit – Japanische Gesänge

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Momentaufnahmen, subjektiv erlebt, flüchtig notiert, sind nichts weiter als winzige Ritzen, durch die wir die eigene Wirklichkeit erkennen. Im besten Fall erfährt der Reisende in der Fremde etwas mehr über sich selbst. Ich kann gar nichts sagen, weder über Musik noch über dieses liebenswerte Land Japan, in dem sich die Herzen so vieler Reisender öffnen. Erleben ist immer subjektiv, und eine Vielzahl anderer Erlebnisweisen ist möglich.

 5. Juli 2017. Tsukuba, Japan. Weltkongress für Musiktherapie. Festliche Einführungsveranstaltung. Freundliche Grußworte, dann tritt eine traditionelle japanische Combo auf die Bühne. Endlich Musik! Etwa zehn Musiker/ -innen sitzen ordentlich aufgereiht auf der Bühne, Blick ins Publikum, in ihrer Mitte eine kleine zierliche Dame in blauem Gewand. Erwartungsfrohe Stimmung. Trommeln. Urplötzlich ein – ja was denn? – schriller, archaischer Schrei, ein helles Dröhnen, die zierliche Frau hat den Mund geöffnet, eine hohe Kinderstimme blastert, mit der Kraft 12 röhrender Hirsche, in den Raum, trifft mich, als gelte es mir persönlich, mitten ins Gefühl. Solarplexus. Shut down. Erstaunen pur. Alle meine emotionalen Erwartungen – Gesang!? – zerplatzen in einer Supernova, lösen sich auf in einem Gewitter aus Fremdheit.

Der Ton scheint tief aus der Erde unter Tsukuba zu kommen, ein nie vorher gehörter vulkanischer Ton, für den mir die Begriffe, die Worte fehlen. Schlagartig wird mir bewusst, wie vollkommen subjektiv und kulturell vorgeprägt meine Hörweise ist, und welche Vielzahl anderer Hörweisen es geben muss, die ich nicht kenne. Ich jedenfalls höre einen gurgelnden, rollenden, donnernden und schmerzgetränkten Laut, ein mächtiges kindliches Brüllen voller archaischer Aggression.

Dieses „Gebrüll“, diese Musik ist so, klingt so fremd! Begrüßt man so Gäste? Da haben sie uns freundlich eingeladen, und jetzt zeigen sie uns, was sie mit uns machen könnten, wenn wir nicht brav sind, schießt mir durchs Hirn, im Kopf die Bilder japanischer Armeen, Pearl Harbour, das Nanjing-Massaker.
Applaus, eher verhalten. Die kleine blaue Dame springt auf – diese Bewegungen, so elegant, präzise und leicht, wie machen sie das nur – lächelt, die Stimmung komplett gedreht, lacht strahlend, animiert ein Liedchen zum Mitsingen, der Saal entspannt sich, Freude und Harmonie erfüllen den Raum. Die zierliche Dame sagt, in beiden Liedern gehe es um Harmonie, Frieden und Zusammenarbeit. Großer Schlussapplaus. Die Performance hinterlässt mich befremdet, verwirrt. Lost in Astonishment.

Gut, Missverstehen und Verwirrung bilden im interkulturellen Kontakt die Regel. Aber diesen kurzen Moment der Fremdheit erlebte ich als, ich zögere, das Wort zu benutzen, extrem bedrohlich. Eine starke musikalische Erfahrung. Eine Erfahrung, die ich so vielleicht nur in der Musik – die sich für mich nicht wie „Musik“ anfühlte – machen konnte.

Ich bin dankbar für diese Erfahrung. Fremdheit hat so viele emotionale Facetten, aber sie kann auch bedrohlich wirken. Ich bilde mir ein, etwas besser zu verstehen, wie es Menschen, die jetzt zu uns flüchten, manchmal unter uns ergeht. Bedrohliche Fremdheit. Natürlich ähneln sich Menschen. Wir sind uns ähnlicher, als wir vermuten. Aber neigen wir nicht (jedenfalls viele von uns) in unserem Bemühen um Verständigung und Harmonie, mit den besten Absichten, zum Verniedlichen kultureller Unterschiede? Könnte es sein, dass Nicht-wahr-haben-wollen und Verniedlichen von Unterschieden das Gegenteil dessen hervorbringen, was wir erträumen? Die Gräben der Fremdheit unter den Menschen sind tief, und je näher wir uns kennenlernen, desto deutlicher erkennen wir, wie wenig wir voneinander verstehen. Unterschätzen wir die Herausforderungen, die echter Kontakt und nachhaltiger Austausch mit sich bringen? Was bedeutet das in einer Welt, die immer näher zusammenrückt. Musik könnte ein verbindender Rahmen sein, in dem wir Unterschiede erleben und zulassen können.

Vom Träumen

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Ein Traum ohne Wirklichkeit bedeutet mir ebenso wenig
wie reine Wirklichkeit ohne Traum
(Max Reinhard).

Was tun, wenn unsere Träume, die größeren oder die kleineren, sich auflösen? Der Traum Nelson Mandelas niedergetrampelt von Jacob Zuma. Die Träume der Befreiung zerbrochen in zahllosen Diktaturen. Die Träume der Erlösung ausgeblutet im Leiden. Der Traum vom Sieg der Liebe enthauptet von einer Machete. Dies könnte der Anfang einer schier endlosen Liste sein. Was also, wenn unsere Träume auf dem harten Pflaster der Realität zerplatzen. Wenn das weiträumige Träumen fast regelhaft ins Desaster führt – sollen, können, dürfen wir (noch) träumen? Was wird aus dem Geträumten? Wohin geht das Träumen?

Solange ich denken kann, war ich verträumt. Ich träumte im Gehen, beim Spielen, in der Schule, an der Uni, auf Wiesen, unter Wolken oder Plakaten, an Stränden, in Zügen. Einmal lief ich, ich muss etwa fünf Jahre alt gewesen sein, mit offenen Augen träumend gegen einen Laternenpfahl. Man hatte mich Milch holen geschickt, die Milchkanne fiel mir aus der Hand und die Milch ergoß sich in den Rindstein. In der Realität angekommen rieb ich mir den Kopf und spürte, wie eine Beule schnell dicker wurde. Ich fürchte, ich bin keine gute Testperson für Behaviouristen, ich laufe immer wieder träumend gegen Pfähle und hole mir Beulen.

 Ich träume lesend, sprechend, schreibend, beim Schlendern durch Städte vergesse ich träumend die Zeit. Ich träume allein und gemeinsam mit anderen – manchmal träume ich noch, wenn die anderen schon längst weitergezogen sind. Ein vergessenes Kind am Strand, das, alles um sich herum vergessend, im Sand mit Steinen und Muscheln und Wassern spielt, träumend. Ich kann mir nicht vorstellen, nicht mehr zu träumen. Könnte ich nicht mehr träumen, fühlte ich mich lebendig begraben.

Doch was wird aus unseren Träumen, wenn wir versuchen, sie zu verwirklichen? Mit dieser Frage bin ich nicht allein. Amoz Oz stellt sie in seinem Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (verfilmt von Natalie Wortmann). Hellsichtig, poetisch. Ein Teil stirbt beim Träumen, ein anderer Teil lebt weiter. Im Traum. Vielleicht.