Zum Schutz des therapeutischen Raumes – Fragen und Überlegungen zu Schweigepflicht und Datenschutz in Europa und China

von Jan Bleckwedel

Mit der Ausübung unseres Berufes als Psychotherapeuten verbindet sich die Verpflichtung, das eigene berufliche Handeln im Kontext von Fachlichkeit und Ethik zu reflektieren. Ich lebe in Europa, bin dort sozialisiert und ausgebildeten und praktiziere dort. Aus dieser Perspektive ergeben sich im Zusammenhang mit Schweigepflicht und Datenschutz Fragen zu fachlichen Standards und ethischen Regeln, die ich für grundlegend halte: 

  1. Sind therapeutische Beziehungen in China ausreichend geschützt?
  2. In welchem Rahmen und Umfang sind Schweigepflicht und Datenschutz gewährleistet?
  3. Was bedeutet es für eine helfende Beziehung, wenn Schweigepflicht und Datenschutz nicht oder nur eingeschränkt gelten oder gewährleistet sein sollten?

Datenschutz und Schweigepflicht in China 

Die Ethikrichtlinien der chinesischen psychologischen Gesellschaft – aufrufbar unter: Chinese Psychological Society, Code of Ethics for Clinical and Counseling Psychology (Second edition), Chinese Psychological Society, 2018 – sind ausführlich und differenziert, sie entsprechen, soweit ich das beurteilen kann, zum großen Teil den Ethikrichtlinien europäischer psychotherapeutischer Gesellschaften. Dennoch ergeben sich Fragen, wenn es um Datenschutz und den besonderen, essenziellen Schutz des therapeutischen Raumes geht.

Punkt drei der Ethikrichtlinien Privacy and Confidentiality behandelt explizit Vertraulichkeit, Datenschutz und Schutz der Privatsphäre. Ich habe diesen Punkt zum besseren Verständnis in Auszügen ins Deutsche übersetzt:

„3. Datenschutz und Schweigepflicht

Klinische und beratende Psychologen sind für den Schutz der Privatsphäre von Klienten/Patienten, die einen professionellen Dienst (auf)suchen, verantwortlich. Psychologen sollten (indess (menanwhile)) beachten (erkennen), dass der Inhalt und die Ausprägung des Rechts auf Privatsphäre (Datenschutz) durch nationale Gesetze, Verordnungen und Berufsethik geschützt und geregelt wird.

3.1 Zu Beginn professioneller Dienste (professional services) sind klinische und beratenden Psychologen verantwortlich dafür, Klienten/Patienten (service seekers) über den Grundsatz der Vertraulichkeit (Datenschutz), die Grenzen ihrer Anwendung und Ausnahmen zu informieren, und sie sollten eine Einverständniserklärung (informierte Einwilligung) einholen (unterzeichnen).

3.2 Klinische und beratende Psychologen sollten sich darüber im Klaren sein (deutlich verstehen), dass es Grenzen für die Anwendung der Vertraulichkeit gibt: Zu den Ausnahmen vom Grundsatz der Vertraulichkeit gehören: (1)
wenn der klinische und beratende Psychologe feststellt, dass die Klienten/Patienten in ernsthafter Gefahr sind, sich selbst oder andere zu verletzen; (2) wenn Personen, die nicht zivilrechtlich geschäftsfähig sind (z.B. Minderjährige), sexuell angegriffen oder missbraucht wurden oder werden; (3) wenn die Offenlegung vom Gesetz geboten (vorgeschrieben) ist.

3.3 In den Fällen von 3.2(1) und 3.2(2) haben klinische und beratende Psychologen die Pflicht, die Erziehungsberechtigten (die Betreuer) des identifizierten potentiellen Opfers oder die zuständigen staatlichen Stellen zu warnen. Im Fall von 3.2 (3) haben klinische und beratende Psychologen die Pflicht, den Anforderungen des Gesetzes nachzukommen und Informationen nach dem Grundsatz der minimalen Offenlegung offenzulegen,
sofern das Gericht und die betroffenen Personen aufgefordert sind, offizielle schriftliche Unterlagen vorzulegen, wobei auf den Umfang (Rahmen) der Offenlegung zu achten ist.

3.4. Von klinischen und beratenden Psychologen wird erwartet, dass sie Informationen passend zu ihrer Arbeit (Fallakten, Testergebnisse, Korrespondenzen, Audio- und Videoaufnahmen etc.) gestalten, gebrauchen, aufbewahren, übermitteln und offenlegen, in strikter Beachtung der Vertraulichkeit und in Übereinstimmung mit Gesetzen, Regularien und professioneller Ethik. Klinische und beratende Psychologen sollten Klienten/Patienten darüber informieren, wie Fallakten verwendet werden und welches relevante Personal (Kollegen, Supervisoren, Fallmanager, Techniker) Zugang zu den Fallakten hat.“…

Offene Fragen und Überlegungen


Im Rahmen von gegenseitigem Respekt ist freies Sprechen im Vertrauen auf die besondere Schweigepflicht von Therapeuten – also die freie und unbedrohte Offenlegung und Erörterung von Gefühlen, Gedanken, Meinungen, Ideen und Wünschen in einem besonders geschützten Raum – im Selbstverständnis westlich orientierter Psychotherapieformen, gleich welcher Richtung, essenziell.

 Auf dieser Idee, die aus der europäischen Aufklärung (und ihren gesellschaftlichen Folgen) hervorgeht, basiert die Erfindung und Entwicklung verschiedener Richtungen und Formen westlicher Psychotherapie. Die Rahmung als geschützter und zu schützender Raum ist für therapeutische Prozesse nicht nur bedeutungsvoll, sie ist ihre Voraussetzung. Aus diesem Grund wird die therapeutische Beziehung in liberalen, freien und demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens durch besondere Gesetze zu Datenschutz und zur Verschwiegenheitsverpflichtung von Therapeuten besonders geschützt. Im Fall von Psychotherapie bleiben die Rechte (Datenschutz, Persönlichkeitsrechte) und Interessen des Einzelnen (Klienten, Patienten) vor den Rechten und Interessen der Gemeinschaft (Staat, Öffentlichkeit, Angehörige) weitgehend geschützt. Dabei handelt es sich um eine condicio sine qua non, also um eine Rahmenbedingung, die für Psychotherapie (im europäischen Verständnis) konstitutiv ist. Mit anderen Worten: erst in einem auf diese Weise geschützten therapeutischen Entwicklungsraum kann sich entfalten, was wir in Europa einen psychotherapeutischen Prozess nennen.

Punkt 3 der oben zitierten Ethikrichtlinien der chinesischen Gesellschaft für Psychologie – insbesondere Punkt 3 (3) – gibt nun zu der Frage Anlass, inwieweit der Schutz einer therapeutischen Beziehung (Datenschutz, Verschwiegenheitspflicht) in China (im Zweifelsfall) tatsächlich (in ähnlicher Weise wie in Deutschland) gewährleistet ist, bzw. gewährleistet werden kann.

Es muss gefragt werden: Was passiert, um ein Beispiel zu nennen, wenn Klienten oder Behandlern ein Vergehen gegen die Gesetze der Volksrepublik China vorgeworfen wird? In einem politischen System ohne unabhängige Justiz (bzw. mit einer explizit von Partei und Staat gelenkten und abhängigen Justiz), mit eingeschränkten Persönlichkeitsrechten und mit einer staatlichen Zensur kann dies leicht geschehen (Die Liste der verbotenen Themen ist lang). Wie würde in einer solchen Situation auf dem Hintergrund von Punkt 3 (3) entschieden? Nimmt man die Erfahrungen vor chinesischen Gerichten und mit staatlichen Sicherheitsdiensten ernst, dann ist damit zu rechnen, dass Persönlichkeitsrechte, Verschwiegenheitspflichten und Datenschutz immer dann nur sehr eingeschränkt gelten, wenn bestimmte Meinungen, Äußerungen oder Ideen von staatlicher, offizieller Seite als gegen die KPch, den Staat oder das chinesische Volk gerichtet angesehen werden. In einem solchen Fall könnten Behandler oder Klienten, die eine Aussage verweigern, selbst angeklagt werden. Im Zweifelsfall gehen die Interessen der KPch, des Staates und des chinesischen Volkes vor.

Die momentan gültige Linie der kommunistischen Partei Chinas und die darauf basierende sozialistische Gesellschaftsordnung und Rechtsauffassung in China ist in dieser Hinsicht unmissverständlich: Die Interessen und Rechte der Gemeinschaft (Partei, Staat, Volk) sind (im Zweifelsfall) wichtiger und höher zu bewerten als die Interessen und Rechte des Einzelnen. Dieser grundlegende Unterschied zu westlich orientierten Gesellschaftsformen und Demokratien – in denen die Persönlichkeitsrechte des einzelnen Individuums durch eine unabhängige Justiz vor den Zugriffen von Staat und Gemeinschaft explizit geschützt werden – führt, es kann gar nicht anders sein, zu unterschiedlichen Bewertungen von Menschenrechten und Menschenpflichten (durch das chinesische Rechtssystem). Dies betrifft sicher auch Felder wie Beratung, Coaching, Supervision oder Psychotherapie. In bestimmten Situationen könnten Behandler auf gesetzlicher Grundlage dazu gezwungen werden Daten und Inhalte offen zu legen (Wie in Punkt 3 (3) festgelegt).

Ich glaube nicht, dass es möglich ist, den beschriebenen grundlegenden Unterschied[1] in den Rahmenbedingungen (und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben) einfach zu ignorieren, ohne sich dem Vorwurf der Verdrängung oder Verleugnung auszusetzen. In Kooperationen auf Augenhöhe sollte darüber unter den Beteiligten offen gesprochen werden können. Man kann nicht ohne Realitätsverlust einfach so tun als gäbe es nicht, was offensichtlich ist. In jedem Fall muss man davon ausgehen, dass unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen Schweigepflichten und Datenschutz in China weder für Behandler/Lehrende noch für Klienten/Patienten/Studenten gewährleistet sind. Dies gilt auch für Angebote zur Selbsterfahrung in psychotherapeutischen Ausbildungen.   

In diesem Zusammenhang wird gelegentlich argumentiert, dass Klienten und Behandler in China (selbstverständlich und stillschweigend) sehr gut wissen, worauf sie sich einlassen. Die Beteiligten könnten also selbst entscheiden, worüber sie sprechen wollen und worüber nicht.

Aus einem übergeordneten Gesichtspunkt ergibt sich dann allerdings die Frage, was eigentlich in einer Beziehung geschieht, die auf eine solche, sehr besondere Art und Weise gerahmt und reguliert wird. Wie ist eine Beziehung einzuschätzen, in der (a) Vertraulichkeit zugesichert und in der Regel (b) zum freien Sprechen (Äußern von Meinungen, Gefühlen, Gedanken, Wünschen und Ideen) aufgefordert wird, in der jedoch (c) gleichzeitig alle Beteiligten wissen, dass dies so gar nicht möglich ist, da die innere Zensur bewusst oder unbewusst immer eingeschaltet bleibt oder bleiben sollte (Es sei denn, die Beteiligten vertrauen sich gegenseitig „blind“ und gehen damit ein sehr hohes Risiko ein).

Mir sind bisher keine Artikel oder wissenschaftlichen Studien bekannt, die sich explizit mit diesem Thema beschäftigen. Auf der Grundlage allgemeiner psychologischer Überlegungen wäre allerdings zu erwarten, dass – neben einer vielleicht heilenden Wirkung einzelner Techniken und Methoden, die sich auf bestimmte Symptomatiken beziehen – sowohl Klienten/Patienten/Studenten als auch Therapeuten/Behandler/Lehrende bewusst oder unbewusst Mechanismen und Muster von Verdrängung und Verleugnung (er)härten und erlernen. Es wäre, nach europäischem Verständnis, anzunehmen, dass sich Formen von „Pseudogemeinschaften“ (im Sinne von L.C. Wynn) bilden, die neben einem Gewinn (Verbesserung von Symptomatiken in bestimmten Bereichen,) erfahrungsgemäß eine hohe schädigende („Neben“)Wirkung entfalten können, indem sie eine nachhaltig gesunde und authentische Gefühlsregulation, Lebensweise und Beziehungsgestaltung behindern [2]. Das gilt selbstverständlich auch für Ausbildungszusammenhänge, zumal in psychoanalytischen orientierten Verfahren, in denen eine „Regression im Dienste des Ich’s“ intendiert wird, was einen besonders geschützten Raum voraussetzt.

Wie könnte ein verantwortlicher Umgang mit den oben skizzierten Tatsachen aussehen? Möglich bleibt ein fachlicher Wissensaustausch auf der Grundlage gegenseitigen Respekts (Vorträge, Wissensvermittlung). Bereits beim Training von Skills (Methoden und Techniken) wäre zu betonen, dass diese nicht, im Sinne der in Europa gültigen ethischen Richtlinien, zur Manipulation eingesetzt werden sollten (obwohl dies selbstverständlich außerhalb der Kontrollmöglichkeiten liegt). Was eine vertiefte Selbsterfahrung angeht, so wäre es aus meiner Sicht zunächst notwendig, den fundamentalen Unterschied in Bezug auf Schutz und Vertraulichkeit, der durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen für Beratung und Psychotherapie in Deutschland und China hervorgerufen wird, zur Kenntnis zu nehmen, zu kommunizieren und genauer zu verstehen. Auf diesem Hintergrund müsste überlegt werden, wie der erste ethische Grundsatz NICHT SCHÄDIGEN umgesetzt werden kann.

Für Psychotherapeuten aus Deutschland ergibt sich meiner Ansicht nach eine besondere historische Verantwortung für einen sensiblen Umgang mit den oben skizzierten Themen. Die Geschichte der Psychologie und Psychotherapie im Nationalsozialismus[3] und im „realen Sozialismus“ der DDR hält Lehren bereit, die wir nicht ignorieren sollten.

(Jan Bleckwedel, 26.4.2023)

[1] In den Werten und damit in der Bewertung

[2] Dies war immerhin der Ausgangspunkt von Freuds bahnbrechenden Überlegungen zur Psychodynamik und zu psychotherapeutischen Settings und Vorgangsweisen.

[3] Zu den Verirrungen des Berliner „Göringinstituts“ (1936-1945) und der „Deutschen Psychotherapie“ vgl. u.a.:  Karen Brecht, Volker Friedrich, Ludger M. Hermanns, Isidor J. Kaminer, Dierk H. Juelich (Hrsg.): „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Art weiter …“ Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. 2., verbesserte Auflage. Michael Kellner, Hamburg 1985, ISBN 3-922035-98-1.